Nicole Richard , Trainerin für Integrative Validation (www.integrative-validation.de) Foto: ms

„Die Anzahl von Menschen mit Demenz wird steigen“

Publiziert in 1 / 2006 - Erschienen am 11. Januar 2006
Auf reges Interesse stieß der Beitrag zum Thema Demenz-Erkrankungen, den wir in der Ausgabe Nr. 21 („Der Vinschger“ vom 4.11.2005) veröffentlicht haben. Im nachfolgenden Interview mit Nicole Richard aus Deutschland, Trainerin für Integrative Validation, wird das Thema weiter vertieft. Die Integrative Validation (IVA) ist eine Methode für Pflege- und Betreuungskräfte für den Umgang und die Kommunikation mit Menschen mit Demenz. Sie ist aus einer fünfjährigen Bundesarbeitsgemeinschaft in Deutschland zwischen Praktikern, Leitungs- und Lehrkräften der Altenhilfe enstanden. IVA basiert auf einer wertschätzenden Grundhaltung. Anerkennung, Respekt und die Ich-Identität der Menschen mit Demenz stehen im Mittelpunkt. IVA unterstützt die Wahrnehmungskompetenzen der Pflegenden. Ausgehend von zugrunde liegenden hirnorganischen Abbauprozessen und den damit in Verbindung stehenden Verlusten und Einbußen der Menschen mit Demenz konzentriert und orientiert sich IVA zentral an deren Ressourcen. Besondere Bedeutung erhält hierbei die Sensibilisierung der Pflegenden auf die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse der Erkrankten. Benachbarte Disziplinen, wie etwa Hospiz- und Biografiearbeit, Körpersprache, Milieutherapie, Basale Stimulation, Umgang mit Sexualität usw. werden mit dem Ansatz der IVA verflochten. Professionelle und angehörende Pflegende können so ihr persönliches „Handwerkzeug“ der Interventionsmöglichkeiten im Umgang mit dementiell erkrankten Personen erweitern und verfeinern. „Der Vinschger“: Wie sieht Ihre Arbeit aus? Nicole Richard: Ich arbeite in Italien, in der Schweiz und vor allem in Deutschland. Ich habe eine ganze Reihe von Trainerinnen, die Grundkurse anbieten. Ich mache die Aufbaukurse und Tagungen für große Gruppen. Weiteres kümmere ich mich um neue Themen und Verknüpfungen. Die Demenz an sich berührt ganz viele Themen wie etwa Biografie, Hospiz, Körpersprache oder Milieutherapie. „Der Vinschger“: Was müssen wir bei der Begleitung Demenz-Erkrankter wissen? Nicole Richard: Man darf Aussagen von Dementen nicht korrigieren, weil die Menschen sehr wohl spüren, dass sich bei ihnen etwas ändert. Gerade am Beginn der Demenz ist es so, dass sie sehr wohl genau wahrnehmen, dass sie vergessen, dass sie Dinge nicht behalten können, dass sie mit ihrem Alltag nicht mehr zurechtkommen. Das ist ungeheuer dramatisch, denn die Menschen haben ja 60, 70 oder 80 Jahre gelebt und jetzt will es einfach nicht mehr funktionieren. Da sie nicht möchten, dass andere über sie lachen und den Respekt verlieren, nutzen sie eben diese Schutzstrategien wie Leugnen, wie Fremdbeschuldigungen oder wie Ablenken und da darf man sie nicht dabei erwischen. Es ist ein Schutzwall, wobei sie versuchen, ihre eigene Würde zu bewahren. „Der Vinschger“: Welche Hilfen gibt es für Angehörige und Pflegende? Nicole Richard: Es ist natürlich für Angehörige viel schwieriger als für Professionelle, denn in einem solchen Fall bist du selber beteiligt und Bestandteil dieses Systems. Wichtig ist für Angehörige, im Grunde alles so zu lassen wie es ist, denn jede Veränderung ist auch eine Bedrohung. Die Gewohnheiten, die ein Betroffener hatte, sollten immer beibehalten werden, in der Wohnung sollte nicht viel umgestellt werden, Tassen und Geschirr sollen da stehen, wo sie immer waren. Professionelle und auch pflegende Angehörige sollten immer nur das ansprechen, was der Mensch noch kann, und das, was er nicht mehr kann, gar nicht benennen, denn sonst fühlt er sich wieder erwischt. Es sollten immer die so genannten „Antriebe“ angesprochen werden, wie etwa Fleiß, Humor, Ordnungssinn, Pflichtbewusstsein oder Familiensinn. So fühlt sich der Betroffene persönlich angesprochen. „Der Vinschger“: Was sollte man für die Zukunft berücksichtigen? Nicole Richard: Ich denke, dass auch hier in Südtirol ähnlich wie in Deutschland die Anzahl von Menschen mit Demenz steigen wird. In den Einrichtungen wird es für orientierte Bewohner zunehmend schwerer, weil immer mehr Menschen mit Demenz dazukommen. Wenn nur drei bis vier in einem Wohnbereich sind, können die anderen das gut ausgleichen, aber wenn es mehr werden, können es die Menschen, die orientiert sind, nicht mehr auffangen, weil sie sozusagen umringt sind. Für die orientierten Menschen, die ja auch irgendeinen Pflegebedarf haben, denn sonst wären sie ja nicht im Altersheim, ist es so, dass sie beim Anblick von Demenzerkrankten Angst haben, genauso zu werden. Was ich den Einrichtungen empfehlen würde, wäre darüber nachzudenken, vielleicht Stück für Stück doch die Konzeption umzustellen, sodass man in einem Wohnbereich eben nur Menschen mit Demenz versorgt. Das hat nichts mit Gettoisierung zu tun, sondern vielmehr ist es eine Spezialisierung. Altenpflege braucht in der nächsten Zeit eben Spezialisierung, weil die Arbeit mit Demenzerkrankten eben doch eine ganz andere ist. Man kann dann Mitarbeiter sich freiwillig für diese Arbeit entscheiden lassen, denn nicht jeder kann das. Der eine hat Talent für dies und der andere für etwas anderes, das ist auch in Ordnung. Wenn der eine mit Menschen mit Demenz arbeitet, kann ein anderer in einem Bereich arbeiten wo es um gemischt-geriatrische Bewohner geht. Ich würde empfehlen, sich darüber Gedanken zu machen, ob es nicht Sinn macht, solch eine Konzeption in Zukunft zu gestalten. Es braucht lange vorher die Schulung der Mitarbeiter, es braucht lange vorher die Vorbereitung auf das spezielle Krankheitsbild. Mitarbeiter müssen, bevor sie anfangen, ein gutes Fundament haben, sonst sind sie, wenn die Bewohner plötzlich da sind, überfordert. „Der Vinschger“: Welche Betreuungsform sehen sie für Demente? Nicole Richard: Die für mich schönste Betreuungsform in der Arbeit von Menschen mit Demenz ist die Hausgemeinschaft oder die Wohngemeinschaft, wo der große Gemeinschaftsraum in der Mitte ist und die Menschen sich tagsüber zusammenfinden. Demenzerkrankte definieren sich über andere, sie brauchen die anderen, sie sitzen nicht mehr in ihren Zimmern, lesen Bücher, sehen fern oder führen Gespräche. Sie brauchen die Gruppe. Von daher haben Wohngemeinschaften und ähnliche Wohnformen eine große Zukunft. Es muss natürlich auch entsprechend vorbereitet werden, auch architektonisch. Ich empfehle daher, Einrichtungen anzuschauen, die bereits diesen Weg gehen. Es werden überall schöne Erfahrungen gemacht, auch Fehler. Man muss dann diese Fehler nicht selbst neu machen, die guten Ideen aber kann man übernehmen und das, was nicht funktioniert, vermeiden. Interview: Monika Prohaska

Diese Seite verwendet Cookies für funktionale und analytische Zwecke. Lesen Sie unsere Cookie-Richtlinien für weitere Informationen. Durch die Nutzung dieser Website erklären Sie sich damit einverstanden.