Die Zeit heilt alle Wunden, aber...

Publiziert in 24 / 2019 - Erschienen am 9. Juli 2019

Vor 80 Jahren mussten die Südtiroler zwischen „Bleiben“ oder „Gehen“ entscheiden. Das ist ziemlich lange her. Die Kinder von damals sind mittlerweile alt. Auch wenn sie seinerzeit noch nicht verstanden haben, um was es geht, haben sie vieles mitbekommen, mitgehört, mitgefühlt und miterlebt. Sie konnten sich keinen Reim darauf machen, warum Vater und Mutter heftig diskutierten, warum sie weinten und mit ihren Nachbarn stritten. Immer und überall wurde nur über dieses eine Thema gesprochen, in der Stube, im Stall, auf dem Acker, in der Küche, im Wirtshaus, auf dem Kirchplatz. Nicht verstanden haben die Kinder von damals auch, warum die Eltern plötzlich die Koffer und Rucksäcke packten und ihr Zuhause verließen, oder warum sie von den Nachbarskindern plötzlich als „Walsche“ verschrien und gemieden wurden. Diese Dinge drangen derart tief in die Herzen und Köpfe ein, dass die Kinder und Enkelkinder der Dableiber, Optanten und Rückkehrer zum Teil heute noch genau wissen, wer auf welchem Hof wie abgestimmt hat. Die Option spaltete ganze Dörfer, Geschwister und sogar Eheleute. Es verwundert nicht, dass manche Kinder von damals über das, was sie fern der Heimat oder im eigenen Dorf sehen, hören und mitmachen mussten, lange nicht reden wollten bzw. immer noch nicht wollen. Es mag stimmen, dass die Zeit alle Wunden heilt. Wenn die Wunden aber derart groß sind, braucht es viel Zeit. Manchmal mehr als ein Leben lang ist.

Josef Laner
Josef Laner

Diese Seite verwendet Cookies für funktionale und analytische Zwecke. Lesen Sie unsere Cookie-Richtlinien für weitere Informationen. Durch die Nutzung dieser Website erklären Sie sich damit einverstanden.