Drängeln

Publiziert in 37-38 / 2021 - Erschienen am 9. November 2021

Stundenlang harren Leute vor Geschäften aus, wenn diese mit Rabatten, Ausverkäufen, Sonderpreisen, „Black Fridays“ oder anderen Verlockungen, wie auch immer diese heißen mögen, aufwarten. Und wenn die Türen aufgehen, bricht das gewollte Chaos aus. Wer vorher da war, schielt auf jene, die später gekommen sind. Wer ganz hinten steht, stiehlt sich gekonnt nach vorne. Auch in diesem Metier gibt es mittlerweile Profis. Nicht viel anders geht es auf Straßen und Autobahnen zu. In einem Ameisenhaufen herrscht beim ersten Hinsehen zwar auch ein ziemliches Durcheinander, aber wer die Tierchen etwas genauer beobachtet, merkt alsbald, dass eine ungeschriebene Ordnung herrscht. Die Ameisen haben es zwar alle eilig, stellen aber einander geschickt aus und am Ende finden alle ihren Weg. Da greifen so manche Autofahrer auf ganz andere Tricks, Grob- und Frechheiten zurück: ran bis an die Stoßstange, aufblenden, hupen. Und ein paar Minuten später trifft man die Superschnellen drei Fahrzeuglängen weiter vorne an der roten Ampel oder am Pudel der Raststätte bei Kaffee und Croissant. Es ist oft nicht die Zeit, die Drängler zu gewinnen versuchen, sondern mehr das Gefühl, schneller und besser zu sein als die lahmen „Enten“, die da auch noch mitschwimmen. Wenn es ihnen nicht gelingt, nach gewohnter Manier auf der Straße zu „siegen“, kommen sie sich wie Verlierer vor. Es macht sie traurig, nicht einmal auf der Straße die Ersten zu sein.

Josef Laner
Josef Laner

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