Ich koste zu viel

Publiziert in 12 / 2017 - Erschienen am 5. April 2017

Nach über 1.000 Vollmonden werden die Beine langsam schwach. Die Schwielen und Furchen an den schlaffen Händen verblassen. Und das Augenlicht ist auch nicht mehr das von früher. Das erste, wonach sie beim Aufwachen blinzelt, ist das Fenster, und dann die Tür: Kommt bald jemand? Für die Altenpflegerin sind es Minuten, für sie sind es Stunden. Und wieder schaut sie zur Tür. Es ist nicht die Tür, durch die sie ein Leben lang in ihr Haus ging. Und es ist nicht die Tür zur Küche, zur Stube, zum Keller, zum Stall und zum Ehezimmer, wo 8 Kinder geboren wurden. Alle groß inzwischen, alles aufrechte Leute. Und es ist auch nicht die Holzgittertür zu ihren Hennen und Schweinen. Wenn zu Weihnachten der Metzger mit dem Messer kam, hat sie immer ein bisschen geweint. Kurz darauf aber hielt sie schon wieder die Pfanne hin. Für das Blut. Auch damit kann man ­kochen. Wie mit dem, was im Garten wächst, auf dem Acker, an Bäumen und im Wald oder was man, wenn es unbedingt sein muss, im Laden kaufen kann. Dafür braucht es Geld. Vom Geld wusste sie immer nur so viel, dass man es nicht ausgeben sollte. Es berührte sie wenig, als man von der Lira zum Euro wechselte. Kürzlich hat sie aber mitbekommen und irgendwie wohl auch verstanden, wie viel ein Heimplatz im Monat kostet. Den genauen Betrag kannte sie nicht. Sie wusste nur, dass es viel ist. Und eines Abends sagt sie mit leicht angenässten Augen: „Ich will weg, ich koste zu viel.“

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Josef Laner
Josef Laner

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