David Fliri beim Festvortrag am 31. Mai 2019 im Kloster Merienberg

„Man kann nie genug über die Vergangenheit wissen“

David Fliri, Träger der Förderpreises 2020 der Stiftung „Walther-von-der-Vogelweide-Preis“ im Interview

Publiziert in 39-40 / 2020 - Erschienen am 12. November 2020

der Vinschger: Herr David Fliri, wie kommt ein junger Mensch überhaupt dazu, sich für alte Archive und Geschehnisse zu interessieren, die längst Geschichte sind?

David Fliri: Begonnen hat eigentlich alles mit der eigenen Familiengeschichte und sich so dann Schritt für Schritt weiterentwickelt. Sicher ein Grund für dieses tiefere Interesse war die Erkenntnis, dass gerade der Raum des historischen Tirols über eine außergewöhnliche Quellenlage verfügt, und viele Schätze in diesem Bereich noch nicht gehoben sind. Die wichtigste Voraussetzung mit diesen Quellen arbeiten zu können ist natürlich, sie entziffern zu können. Mit Geduld, Übung und einer guten Portion Neugier konnte ich irgendwann die meisten Dokumente lesen, und dann hat es begonnen richtig Freude zu machen. Die Rekonstruktion vergangener Geschehnisse erfordert manchmal fast eine Art kriminalistisches Gespür, was Teil des besonderen Reizes an der Beschäftigung mit der Geschichte ausmacht.

Sie haben unter anderem auch im Auftrag des Landesarchivs verschiedene Pfarrarchive geordnet. Ging es dabei ausschließlich um das Ordnen, oder haben Sie auch Inhaltliches zu Tage gefördert?

Konkret ging es bei diesem Projekt um die Sichtung, Ordnung und Verzeichnung der Pfarrarchive des Dekanates Mals im Oberen Vinschgau – letztlich also um die Sicherung dieser wertvollen Überlieferung. Die Arbeit begann in den einzelnen Pfarrhäusern oft damit, zuerst einmal die historische Überlieferung zu suchen. Vielfach gab es schon eigene Archivräume oder Kästen. Zum Teil ist das Schriftgut aber auch irgendwo in einer Ecke eines Dachbodens oder Zimmers unbeachtet gelegen. Wenn dann erstmal das Material zusammengesucht war, habe ich es geordnet und daraufhin sachgemäß verpackt und verzeichnet. Bei der Erstellung der Verzeichnisse ging es natürlich auch um eine inhaltliche Erschließung der einzelnen Schriftstücke. Eine tiefergehende inhaltliche Auswertung der einzelnen Bestände war im Rahmen dieses Projekts nicht geplant und wäre in dem Zusammenhang auch wenig sinnvoll gewesen.

Wissen wir mittlerweile nicht genug über unsere Vergangenheit oder gibt es noch Lücken?

Das liegt natürlich immer im Auge des Betrachters. Heute prasseln zahllose Informationen tagtäglich über verschiedenste Medien auf jeden von uns ein. Das macht es mitunter schwierig, kritisch damit umzugehen und zu entscheiden, auf welche Quellen man sich verlassen kann (Stichwort „fake news“). In der Geschichte finde ich das überschaubarer, weil die Geschehnisse bereits vergangen sind und damit distanzierter betrachtet werden können. Aufgrund meines Berufs und meiner Überzeugung muss ich also sagen, dass man nie genug über unsere Vergangenheit wissen kann. Das mag in unserer schnelllebigen Gesellschaft vielleicht etwas veraltet und angestaubt klingen. Doch meiner Meinung nach kann man jede aktuelle Entwicklung aufgrund eines fundierten historischen Wissens besser einordnen und teilweise wohl auch besser verstehen.

Sie haben auch das wertvolle Archiv des Stiftes Marienberg geordnet. Bei der Eröffnung der neuen Bibliothek im Kloster Marienberg und des neu geordneten Archivs am 31. Mai 2019 bezeichneten in Ihrem Festvortrag vor allem die „Graue Literatur“ als besonders wertvoll. Was ist unter „Grauer Literatur“ zu verstehen?

Das Archiv von Marienberg ist wegen seines Umfangs und seiner historischen Bedeutung sicherlich das derzeit wichtigste, noch im Vinschgau verwahrte Archiv. Die Ordnungsarbeiten an dem sehr umfangreichen Bestand sind keineswegs abgeschlossen, sondern „work in progress“. Wir bemühen uns aber nach Kräften, es für die wissenschaftliche Forschung benutzbar zu machen. Bei dieser Gelegenheit muss ich vielleicht nochmals auf den grundlegenden Unterschied zwischen Archiv und Bibliothek hinweisen. Ein Archiv verwahrt großteils nur Unikate, also Einzelstücke, während eine Bibliothek bis auf wenige Ausnahmen als eine reine Sammlung von Dubletten zu bezeichnen ist. Denn bekanntlich wird jedes Buch mehrfach gedruckt und ist daher auch in mehreren Bibliotheken verfügbar. Einen Brief oder eine Urkunde gibt es meistens aber nur ein einziges Mal. Meine Aussage zur „Grauen Literatur“ hat sich deshalb auch rein auf die Bibliothek bezogen. „Graue Literatur“ ist ein Sammelbegriff für Gelegenheitsdrucke, die nur in geringer Zahl verbreitet worden sind. Man denke in dem Zusammenhang etwa an diverse Vereinsfestschriften aber auch an Werbebroschüren, Flugblätter/Flyer usw. In der Marienberger Bibliothek finden sich einige solcher seltenen Drucke – also quasi Unikate – was sie besonders interessant macht. Der große Teil des Buchbestands zeugt zwar eindrucksvoll von der Gelehrsamkeit der Benediktinermönche, hat seinen Schwerpunkt aber im 19. Jahrhundert. Diese Bücher werden heute von Informationsgiganten wie Google sukzessive als Volldigitalisate zugänglich gemacht. Das ist praktisch, macht ihre physische Verfügbarkeit aber immer uninteressanter.

Was hat Sie bei Ihrer Arbeit im Stiftsarchiv besonders überrascht?

Besonders überrascht hat mich eigentlich die Fülle der Überlieferung, die sich im Laufe von 900 Jahren durch die Verwaltungs- und Sammeltätigkeit der Mönche angehäuft hat. Beeindruckend ist, dass sich so viele Dokumente trotz verschiedener „Katastrophen“ in meist sehr gutem Zustand erhalten haben. Auch hier hat sich das geflügelte Wort unter Archivaren wieder einmal bewahrheitet: „Das Haus verliert (fast) nichts“.

In welchen Bereichen sehen Sie Nachholbedarf in der geschichtlichen Aufarbeitung des Klosterarchivs?

Das Stiftsarchiv von Marienberg bietet sehr viel Material für verschiedenste Themen. Die wissenschaftlichen Fragestellungen verändern sich mit der Zeit natürlich ständig, weshalb immer wieder neue Aspekte herausgearbeitet werden können. Reizvoll und noch ausständig wäre etwa eine Aufarbeitung der Wirtschaftsgeschichte des Klosters und deren Verortung im regionalen und überregionalen Kontext. Um im digitalen Bereich aufzuholen, hoffen wir die wertvolle Urkundensammlung Marienbergs in absehbarer Zukunft auch online zur Verfügung stellen zu können.

Josef Laner
Josef Laner

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