Corona-Tagebuch (18), 06.04.2020

Corona-Tagebuch (18), 06.04.2020

So viele „Freunde“ hatte ich noch nie

- „Wenn ich dich noch einmal beim Spazierengehen erwische, zeige ich dich an.“ Der Mann, der mit das vor ca. zwei Wochen zurief, wollte nur einen Scherz machen. Er suchte nach einer Gelegenheit, mit jemandem ein paar Worte zu wechseln. Heute in der Früh habe ich ihn erneut getroffen. Vor dem Zeitungs- und Tabakladen. Er trägt einen Schlauchschal und bildet zusammen mit mir und 3 weiteren Kunden die „Abstands-Schlange“ vor dem Geschäft. Es darf immer nur eine Person hinein. Alle warten geduldig, bis sie an die Reihe kommen. Eilig hat es keiner. Die Lust für ein kurzes Gespräch ist zwar bei allen groß, doch man hält sich bewusst zurück. Abgesehen vom Abstand sind auch die Masken und Schals um Mund und Nase für einen „Ratscher“ nicht gerade förderlich, auch nicht für einen kurzen. So bleibt es meistens bei einem kurzen Gruß, einem Nicken oder einem aufmunternden Wort: Es wird schon wieder besser werden. Als ich in der Redaktion ankomme, zeigt mir das Smartphone an, wie viele Schritte ich ab Mitternacht bis jetzt (9.30 Uhr) gemacht habe: 2.177. Stimmen diese Angaben? Wie kommen sie nur dazu, meine Schritte zu zählen? Wissen sie auch, wohin ich gehe? Oder gar, was ich tue? Sicher ist, dass sie mehr wissen, als mir lieb ist. Es wurde mir schon etwas mulmig und bange, als ich vor wenigen Tagen las, dass der Google-Konzern vielen Regierungen anonyme Bewegungsdaten zur Verfügung gestellt hat. Dies deshalb, damit die Behörden während der Corona-Krise Informationen über die Verhaltenstrends der Bevölkerung erhalten und daraus Rückschlüsse ziehen bzw. Einschränkungsmaßnahmen setzen können. Mit Hilfe dieser Daten kann zum Beispiel aufgezeigt werden, wo und zu welcher Zeit am meisten Menschen unterwegs sind. Dass es sich um anonymisierte Daten handelt, beruhigt mich nicht wirklich. Denn die Daten sind erfasst und niemand kann garantieren, dass sie irgendwann nicht auch für andere Zwecke gebraucht bzw. missbraucht werden. Abgesehen vom Aspekt des Datenschutzes und des Rechtes auf Privatsphäre ist die virtuelle Welt derzeit im Aufwind wie noch nie. Wenn zig Millionen von Menschen „einsperrt“ sind und direkte soziale Kontakte untersagt bleiben, verlagern sich die Kontakte und die Kommunikation auf die digitale, virtuelle Ebene. Das hat bekanntlich viele Vorteile, aber auch Nachteile. Noch nie habe ich dermaßen viele Freundschaftsanfragen auf Facebook bekommen wie in den vergangenen 4 Wochen. Ich habe plötzlich hunderte neue Freunde. Bei manchen habe ich die Anfrage nicht deshalb bestätigt, weil ich sie persönlich kenne, sondern weil sie bereits Freunde von einigen meiner Freunde sind. Obwohl die virtuellen Freundeskreise weltweit wachsen, heißt das noch lange nicht, dass im gleichen Ausmaß auch wirkliche Freundschaften entstehen. Immer noch wahr ist, dass man wirkliche Freunde am Ende an einer Hand abzählen kann, auch wenn ein oder gar mehrere Finger fehlen.

Sepp Laner

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