„Über sieben Brücken musst du geh‘n …“

Roger Pycha, Leiter des Psychiatrischen Dienstes in Brixen, über die 4. Deutsch-Italienischen Psychiatrietage in Brixen, die vor kurzem zu Ende gegangen sind.

- Über „die“ Psychiatrie kann man leicht schlecht reden: Allzu oft fand sie sich leichtfertig auf der Seite herrschender Mächte und ließ dabei den hippokratischen Eid außer Acht, vor allem das Gebot, nicht zu schaden, wenn schon Hilfe nicht (mehr) möglich ist. Andererseits ist „die“ Psychiatrie immer auch Ausdruck ihrer Epoche und ihre Vertreter und Vertreterinnen sind eben keine Halbgötter, sondern Menschen, die wie alle anderen eingeschüchtert, zum Gehorsam gebracht oder verführt werden können. In unserer Zeit gibt es freilich keine Ausflüchte: Der demokratische Rechtsstaat selbst verlangt, ethisch gut zu arbeiten und eine Gesellschaft anzustreben, die insgesamt und nicht nur in psychiatrischen Kontexten - offener und verfügbar ist für ihre „Irren“ und alle, die es nicht schaffen, „normal“ zu sein - von Menschen mit geistiger Behinderung bis zu jenen, deren Kopf „alt“ wird. Von dieser Gegenwart legten die 4. Deutsch-Italienischen Psychiatrietage Zeugnis ab, die am 11. und 12. September 2018 in Brixen unter der organisatorischen Federführung der ärztlichen Leiter der Brixner und Brunecker psychiatrischen Dienste stattfanden. Unter dem provozierenden Titel „Herausforderndes Verhalten – Psychiatrie ja oder nein?“ wurde dabei dargelegt, dass den großen psychosozialen Problemen Südtirols, Italiens und der transalpinen deutschsprachigen Nationen gekonnt mit einer offenen und humanistischen Haltung begegnet wird. Dank der zwar wechselhaften aber bis in Habsburger-Zeiten zurückreichenden Verankerung der lokalen psychiatrischen Dienste im Nordtiroler wie im Südtiroler und Trentiner Territorium, stehen auch die heutigen Kolleginnen und Kollegen sprachenübergreifend miteinander in offenem, zuweilen auch strittigem, Diskurs.  Wobei die jeweiligen „Schulen“ - die Innsbrucker Universitätsklinik mit ihren bis heute wirksamen Pionieren Hartmann Hinterhuber, Josef Schwitzer und Roger Pycha im Nordosten des Landes und die Demokratische Psychiatrie in der Nachfolge Franco Basaglias mit der Meraner Primarin Verena Perwanger an der Spitze - die Akzente eines breiten Spektrums fachlicher Ansichten markieren. So wechselten sich in der Brixner Cusanus-Akademie nicht nur alle vier Südtiroler Psychiatrie-Primare am Rednerpult ab, sondern auch die amtierenden Präsidenten der nationalen Fachgesellschaften von Italien, Österreich, der Schweiz und Deutschland, um unter dem Tagungsstichwort des „herausfor-dernden Verhaltens“ brennende Gegenwartsprobleme der territorialen sozialpsychiatrischen Betreuung wie auch der - je dienstinternen Arbeitsweisen und -qualität - darzulegen und zu diskutieren. Der Themenfächer reichte dabei von der Last der Migrationsbewältigung über Deeskalationsmaßnahmen in dienstinternen Gefahrensituationen bis zu Fragen nach der Zukunft der forensischen Psychiatrie und dem Gebot einer selbstbewussten interdisziplinären Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Übereinstimmung bestand zwischen den anwesenden Betroffenen-Verbänden und den Klinikern darüber, dass seitens der psychiatrischen Fachleute diverser Professionalität mutiger und im Wortsinn anspruchsvoller die gemeinsamen Bedürfnisse und Forderungen bei Verwaltern, Managern und Politikern geltend gemacht werden müssen, denn diese benötigen in ihrer zahlen- und logistikorientierten Denkweise eine eindringliche mitmenschliche Stimme, um die Verpflichtungen zu verwirklichen, welche die Gesellschaft der Normalen (die ja nicht deswegen -also aufgrund ihrer Normalität- automatisch auch gesund, verständnisvoll und solidarisch ist) denen schuldet, die selbst oder familiär betroffen psychiatrisch kranken. Denn einiges spricht nach den Beiträgen der Fachleute des Vier-Nationen-Treffens dafür, dass die heute dominierenden Probleme, anders als vor 50 Jahren, nicht mehr im Überwiegen institutioneller und technischer Zwangsmaßnahmen liegen, weil es an besseren diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten fehle, sondern, dass sich -mit einem Begriff aus der Soziologie - immer stärker „strukturelle Gewalten“ bemerkbar machen, die von - oft vor Ort gar nicht erkennbaren - wirtschaftlichen, finanziellen und gesundheitspolitischen „Global Players“ ausgehen. Demgegenüber muss die Psychiatrie, wenn sie menschlich, glaubhaft und hilfreich sein will, treu und kämpferisch einen unmittelbar persönlichen, lebensweltlich konkreten Kontakt zu ihren Patienten und deren Familien vor Ort behalten und bewahren. Soviel zum Geist der Veranstaltung, der hoffentlich bis zum nächsten Treffen und Wiedersehen der psychiatrisch Leidenden und Tätigen beidseits des Brenners in Brixen in drei Jahren weiterwirken wird.

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