Orte neu denken
„Grübeln“ über die Zukunft des ländlichen Raums
Bei der Tagung in Schluderns (v.l.): Michael Hofer (Geschäftsführer „da“), Ghali Egger (BASIS), Valentin Wallnöfer (Eurac Research), Toni Patscheider (Präsident Vuseum), Harald Pechlaner (Eurac Research), die Referentinnen Nicole Zerrer und Rike Stotten sowie Bürgermeister Heiko Hauser.
Die Tagung im Vuseum in Schluderns.
Gespanntes Zuhören im Haus der Dorfgemeinschaft in Stilfs.
Am Podium (v.l.): Adrian Gamper, Heinrich Tumler, Daria Habicher, Harald Pechlaner, Philipp Reinstadler und Kurt Sagmeister.
Neben regionalen Köstlichkeiten (Bistro Trattoria Vinterra) gab es bei den Tagungen auch passende Musik; in Stilfs spielten Gernot Niederfriniger, Bernadette Kathrein und Christof Amenitsch auf.
Neben regionalen Köstlichkeiten (Bistro Trattoria Vinterra) gab es bei den Tagungen auch passende Musik; in Schluderns Kevin Prantl spielte.

Wie wollen wir morgen leben?

Denkwerkstätten in Schluderns und Stilfs. Kernfragen der Zukunft erörtert.

Publiziert in 20 / 2023 - Erschienen am 7. November 2023

Schluderns/Stilfs - „Orte neu denken“ lautete das übergeordnete Thema, zu dem am 25. und 26. Oktober zwei gut besuchte Denkwerkstätten in Schluderns und Stilfs stattgefunden haben. „Die Kernfrage ist, wie wir morgen in den Dörfern und im ländlichen Raum leben und wirtschaften wollen“, schickte Harald Pechlaner beim zweistündigen Vortrags- und Diskussionstreffen im Vuseum (Vintschger Museum) in Schluderns voraus. Er konnte im Namen von Eurac Research (Center for Advanced Studies) zahlreiche Teilnehmende begrüßen. Eurac Research hatte die Tagung zusammen mit BASIS Vinschgau Venosta und der Bürger*Genossenschaft Obervinschgau „da“ organisiert. Für die Veranstaltung im Haus der Dorfgemeinschaft in Stilfs hatte die Eurac die Arbeitsgruppe des PNRR-Projektes „Stilfs – Resilienz erzählen“ mit ins Boot geholt. Die zwei Veranstaltungen fungierten als Folgeformat der Churburger Wirtschaftsgespräche. Der Schludernser Bürgermeister Heiko Hauser freute sich bei der Tagung in Schluderns, dass die seinerzeit von Johannes Graf Trapp ins Leben gerufenen Wirtschaftsgespräche in diesem neuen Format weitergeführt werden.

Denkwerkstätten für den Obervinschgau

„Wir wünschen uns, dass diese besonderen Tagungen weiterhin als Denkwerkstätten im Obervinschgau fortgesetzt werden,“ sagte Heiko Hauser. Michael Hofer, der Geschäftsführer von „da“, erinnerte an den ehemaligen Genossenschaftspräsidenten Armin Bernhard, der am 8. Jänner 2023 im Alter von nur 51 Jahren gestorben ist. „Die Zukunft des ländlichen Raums war das Spezialgebiet von Armin“, so Hofer. Schon seit der Gründung im Jahr 2016 versuche die Genossenschaft, „mit Leuten vor Ort Projekte zu entwickeln und umzusetzen, um den Lebensraum nachhaltig zu gestalten und Arbeitsplätze zu schaffen.“ Konkret nannte der Geschäftsführer u.a. die Bio-Dorfsennerei Prad und das Bistro Salina in Glurns. Wie Ghali Egger von der BASIS ausführte, „beschäftigen auch wir uns in der BASIS in Schlanders täglich mit der Zukunft des ländlichen Raums und mit Möglichkeiten, der Abwanderung junger kreativer Menschen einen Riegel vorzuschieben.“ Der BASIS sei es ein Anliegen, die bereits gute internationale Vernetzung weiter auszubauen und neue Inhalte und Ansätze in den Vinschgau zu bringen.

„Gesellschaft muss selbst aktiv werden“

In das spezifische Thema „Ländliche Räume und Orte im Spannungsfeld gesellschaftlicher Herausforderungen“, über das in Schluderns diskutiert wurde, führte Harald Pechlaner ein. Dörfer und ländliche Räume hätten zwar auch Vorteile und Stärken, „sind aber aufgrund verschiedener Entwicklungen und Krisen, wie es zum Beispiel der demografische Wandel ist, die Klimakrise, der wirtschaftliche Umbruch oder die Globalisierung, mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. Konkret nannte der Wirtschaftswissenschaftler und Tourismusexperte u.a. die Abwanderung junger Menschen, den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen oder das Angebot im Bereich der Bildungs- und Gesundheitsversorgung. Ebenso zentral seien die Fragen der Digitalisierung und der Belebung der Ortskerne. Um diese und andere Herausforderungen bewältigen zu können, muss die Gesellschaft laut Pechlaner selbst aktiv werden, „und die Politik muss dies zulassen und fördern.“ Eine gesellschaftliche bzw. soziale Innovation müsse dort einhaken, „wo der Staat bzw. die Politik nicht kann oder will.“

Heiko Hauser schlägt Alarm

Dramatisch sei die Situation derzeit zwar noch nicht, „aber es wird in Zukunft besonders für kleinere Gemeinden der Größenordnung von Schluderns schwierig werden, das zurzeit noch relativ hohe Niveau an Dienstleistungen sowie den wirtschaftlichen Standard zu halten,“ gab sich der Schludernser Bürgermeister besorgt: „Gemeindeverwaltungen tun sich schwer, Gasthäuser oder Geschäfte zu halten“, so Heiko Hauser. Aber auch andere Strukturen bzw. Dienstleistungen seien speziell in kleineren Gemeinden in Gefahr: Apotheke, Postamt, Hausarzt und weitere mehr. Als besonders gravierend nannte er den Personalmangel, vor allem auch in den öffentlichen Verwaltungen (O-Ton: „Wir werden im Vinschgau in Zukunft kaum noch Gemeindesekretärinnen und Gemeindesekretäre haben“), den Generationenwechsel in den Betrieben und die Betriebsnachfolge sowie die nicht mehr zumutbare bürokratische Belastung, unter der nicht nur die öffentlichen Verwaltungen stöhnen, sondern die zunehmend auch den Fortbestand von Vereinen gefährdet oder diesen sogar das Genick bricht.

„Tote“ Orte digital beleben

„70 Prozent der Großstädter in Deutschland würden zwar gerne auf dem Land leben, tun es aber nicht.“ So eröffnete Nicole Zerrer (Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung) ihren Vortrag im Vuseum. Die Kommunikationswissenschaftlerin informierte anhand 5 konkreter Beispiele, wie es gelingen kann, kleine Orte im ländlichen Raum, in denen öffentliche und private Strukturen sowie Begegnungsorte wegbrechen, wie etwa Schulen oder Gasthäuser, mit Hilfe der Digitalisierung zu beleben. In einem der untersuchten Problem-Orte, wo es früher 12 Kneipen gab und wo jetzt keine einzige mehr zu finden ist, wurde zum Beispiel eine Dorf-App eingeführt, in einem weiteren ein Dorf-Auto. Zerrer wartete noch mit weiteren Beispielen digitaler Dorfentwicklung auf. Wichtig sei, „dass die Bewohner selbst aktiv werden, neue Formen der Begegnung schaffen und die entwickelten Angebote und Möglichkeiten auch nutzen: „Es gibt keine soziale Innovation ohne Endnutzer.“

Obergurgl und Vent im Vergleich

Die Frage der Resilienz der Landwirtschaft im Ski-Hotspot Obergurgl und im stark bäuerlich geprägten Vent im Ötztal stand im Mittelpunkt des Vortrages von Rike Stotten vom Institut für Soziologie an der Universität Innsbruck. Zumal Obergurgl fast ausschließlich auf den Wintersport ausgerichtet ist, sei dieser Ort für Krisensituationen, wie es die Covid-19-Pandemie war, stark anfällig. Weniger getroffen habe die Pandemie den Ort Vent, wo man verstärkt auf einen sanften Sommertourismus setze. Negativ ins Gewicht falle in Obergurgl, dass im Sommer zum Teil über Monate fast alles geschlossen sei. Es gebe in beiden Orten unterschiedliche Faktoren, die sich positiv oder negativ auf die Fähigkeit auswirken, Krisen und Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Im Vergleich zu Obergurgl sei Vent als resilienter einzustufen. Bei der Diskussion ging es vorwiegend um das Thema der Abwanderung junger talentierter Menschen. Wie es u.a. hieß, wäre es gar nicht möglich, allen akademisch gebildeten Personen im Vinschgau Arbeitsplätze zu bieten, „während aber qualifizierte Arbeitskräfte sehr wohl in vielen Bereichen im Tal händeringend gesucht werden.“ Vom Narrativ „Der Vinschgau ist strukturschwach und arm“ müsse man sich verabschieden und vermehrt die positiven Seiten hervorheben: „Es gibt im Vinschgau tolle Orte und Initiativen, die zu stärken sind, denn sie bringen junge Leute ins Tal“, sagte Daria Habicher.

Wie kommt man zu neuer Tourismuskultur?

Diese Frage stand bei der Veranstaltung in Stilfs im Mittelpunkt. Wie Vizebürgermeister Armin Angerer einleitend ausführte, betreffen einige der rund 20 Maßnahmen, die im Zuge des PNRR-Projektes „Stilfs – Resilienz erzählen“ umgesetzt werden, neben den Bereichen Wohnen, Infrastrukturen, Mobilität, Kultur, Landwirtschaft und Handwerk auch den Tourismus. Konkret nannte er u.a. die Schaffung eines Streuhotels als Ergänzung zu den bestehenden Betrieben, die Errichtung eines Streumuseums, Co-Working-Räume (Wohnen und Arbeiten) sowie eine Anlaufstelle für Gäste in der multifunktionalen Gemeinschaftsstruktur, die dort errichtet wird, wo derzeit das alte Gemeindehaus steht. Das PNRR-Projekt, für dessen Umsetzung von der EU bzw. dem Staat ca. 20 Millionen Euro bereitgestellt werden, soll zwar in erster Linie das Dorf Stilfs aufwerten, „aber wir erwarten uns dadurch auch eine Stärkung des gesamten Ortlergebietes.“

Tourismus bringt Wohlstand, aber …

Dass der Tourismus Wohlstand in die Täler gebracht hat, ist laut Harald Pechlaner sicher wahr, „aber das ist das Argument der Pioniere, welches die jungen Leute nicht mehr verfängt.“ Der Tourismus sei grundsätzlich neu zu denken: „Wir müssen unsere Orte so gestalten, dass sie attraktiv für die Menschen werden, die dort leben, und auch für die Gäste, die zu Besuch kommen.“ Das quantitative Wachsen dürfe nicht mehr die einzige Maxime im Tourismus sein: „Es braucht auch die Akzeptanz der Gesellschaft. Wir müssen die Menschen mitnehmen und das Unbehagen breiter Teile der Gesellschaft dem Tourismus gegenüber ernst nehmen.“ Der Wohlstand allein sei nicht genug, die Bevölkerung müsse die Zukunft selbst in die Hand nehmen. Pechlaner sieht im PNRR-Projekt die Chance, ein attraktives Modell für eine neue Tourismuskultur und eine neue Lebensführung der Zukunft insgesamt zu schaffen. Sollte dies gelingen, könnte Stilfs zu einem Paradebeispiel für den gesamten Vinschgau und das ganze Land werden. Das Bestreben, „im Tourismus wieder dort hinzukommen, wo wir vor Corona waren“, sei ein völlig falscher Ansatz.

„Es geht nicht nur um Bettenstopp“

Bedauert hat Pechlaner, dass sich die Diskussionen rund um das Landestourismusentwicklungskonzept 2030+ (LTEK) fast ausschließlich auf das Thema Bettenstopp konzentriert hätten. Ähnlich äußerte sich beim Podiumsgespräch auch Kurt Sagmeister (IDM). Dass der Tourismus in Südtirol quantitativ an eine Grenze gestoßen ist, sei unbestreitbar. Leider in den Hintergrund geraten sei bisher so gut wie alles, „was nicht mit dem Bettenstopp zu tun hat.“ Dabei sehe das LTEK viele spannende Handlungsfelder vor, etwa eine bessere Zusammenarbeit mit anderen Sektoren wie zum Beispiel der Landwirtschaft. Auch die Gesellschaft insgesamt sei vermehrt einzubinden. Adrian Gamper, der Direktor der Ferienregion Ortlergebiet, beanstandete, dass sich die Politik nur einige Dinge aus dem LTEK herausgepickt habe, wie etwa den Bettenstopp oder die Ortstaxe: „Es gab keine Zeit für vertiefende Diskussionen unter den Akteuren und für die Entwicklung einer Vision. Es ist alles im Fluss.“ Heinrich Tumler, Geschäftsführer der Seilbahnen Sulden, hob die touristische und gesellschaftliche Bedeutung des Tourismussektors als Arbeitgeber hervor. Von Winter-Hotspots, wie es sie in anderen Gegenden gebe, sei man in Sulden „weit entfernt.“ Laut Tumler solle es daher auch in Zukunft Möglichkeiten von qualitativen und quantitativen Erweiterungen geben. Man dürfe nicht alle Gemeinden bzw. Orte über denselben Kamm scheren.

Kein „Overtourism“ 

Von einem „Overtourism“ könne in Sulden bzw. im Ortlergebiet insgesamt laut Tumler keine Rede sein. Auch Philipp Reinstadler (Hotel „Cristallo“) sprach sich für Entwicklungsmöglichkeiten in bestimmten Bereichen in Sulden, Trafoi usw. aus. Der Tourismus sei weiterhin ein Garant für den Wohlstand, es brauche aber auch Innovation. Eines der Probleme sieht Reinstadler im Generationenwechsel bzw. in der Betriebsnachfolge. Laut Daria Habicher, der Koordinatorin der PNRR-Projektgruppe, gibt es nicht nur im Dorf Stilfs, sondern in der ganzen Gemeinde noch genug Spielraum für neue Ideen, auch im Tourismussektor. Sie sieht das PNRR-Projekt in diesem Sinn auch als Plattform und Chance für konstruktive Debatten und Dialoge, „wobei wir Leute aus der ganzen Gemeinde mit ins Boot holen möchten.“ Dominiert haben beim Podiumsgespräch die Ansichten, wonach es weitere Entwicklungen im Tourismussektor brauche. Das zahlreich erschienene Publikum wurde leider nicht zum Mitdiskutieren eingeladen. Mit positiven Innovationsbeispielen dafür, wie man die neuen Herausforderungen in den Alpen meistern kann, wartete Harald Gohm (ALPERIS GmbH & Center for Advanced Studies, Eurac Research) auf. Er informierte z.B. über die Schaffung von Co-Working-Räumen auf 2.000 Höhenmetern in Innsbruck oder über die Herstellung der Schokolade „Tiroler Edle“ mit Milch von Tiroler Grauvieh. Das Credo von Harald Gohm lautet: „Es gibt keine alpinen Themen, alle Themen sind alpine Themen.“

Josef Laner
Josef Laner

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