BergDenken
Publiziert in 16 / 2002 - Erschienen am 29. August 2002
Abstrakte Malereien an Bäumen oder Steinen, manchmal an Gebäuden; Verzierungen oder magische Zeichen zur Abwehr von Dämonen? Reviermarken streitbarer Jäger und Sammler oder verschlüsselte Botschaften? Milena Meller lässt in der Einleitung zum Buch TIROL einen Besucher unseres Landes, der von weit her kommt, derartige Überlegungen machen; auch die großformatigen Bilder des Fotografen Günther Thöni erhalten ihre Kraft und Steigerung durch Verfremdung und dialoghafte Gegenüberstellung.
Bergdenken als neues Spielfeld für Künstler und Schreiber, überraschenderweise auch für Philosophen. Helga Peskoller hat mit ihrem erfolgreichen Buch BergDenken (2.AuflageWien 1998, ISBN 3-901699-04-X) eine neue „Route“ eröffnet und ist jetzt Universitätsdozentin. Sie wurde in Hall in Tirol geboren und ist auf der Bettelwurfhütte im Karwendelgebirge aufgewachsen. Das Bild auf der hinteren Umschlagklappe zeigt die Autorin als Klettererin in der Westlichen-Zinnen-Nordwand in atemberaubender Ausgesetztheit.
Atemberaubend ist auch ihr philosophischer Höhenflug. Man kraxelt über Begriffe wie über Dolomitenwände - epistologische Gratwanderung, Mimesis, heterogene Grenzen des Homogenen - und riskiert einen intellektuellen Sonnenbrand. Die Hauptabschnitte aber heißen schlicht: Übern Grund - Übergang - Übern Berg ... Abstieg Aufstieg. Wer sich durch diese gescheiten Betrachtungen durchlesen will, muss sie regelrecht durchklettern, mit Seil und Sicherung, mit Haken, Hammer und Leiter. Noch niemals wurde Bergsteigen so kühn als Quelle unerschöpflichen Denkens geschildert. In dieser Enzyklopädie finden wir früheste Aufzeichnungen neben aktuellen Daten, kartographische Probleme der runden Erde und der flachen „Wand“. Reflexionen über Raum und Zeit, über das „Erhabene“ bei Imanuel Kant und über Differentialrechnung, über „Schwerkraft“ und über „Menschwerdung“, über das Lachen, wie in einem Zwischentitel zu lesen ist: „Man lacht vor allem, wenn der Körper streikt, wenn er nicht tut, was man will...“
Ich kraxle zwar nicht so oft im senkrechten Fels, habe also andere und sanftere Gedanken. Für mich ist Gehen vor allem Musik. Nach anstrengendem Aufstieg mit dem breiten, aus der Tiefe geholten Luftstrom stellen sich Gefühle eines Ertrinkenden ein. Nach erreichter Höhe, beim Austritt aus finsterem Wald, beim sich Ausbreiten lichter Wiesen stellen sich Schleier von Tönen ein, leiernde, volksliedhafte Melodien, setzen sich auf meine Schultern und helfen mir, das Gewicht des Rucksacks zu tragen. Andante, das bedeutet gehend, gehen über einen Nebelteppich, aber nicht im Sinne von langsam; andante piú bedeutet etwas schneller. Allegretto, larghetto, adagietto bezeichnen das gleiche Tempo, möchten aber auf die Feingliedrigkeit aufmerksam machen. Staccato erinnert an das Stolpern, es folgt heftiges und ruckartiges sich Fangen.
Gehen ist Tanz. Manchmal umwirbelt den Wanderer Musik wie Schneegestöber oder wie still fallender Weihnachtsschnee. Getanzt aber wird erst nach getaner Arbeit, beim Abwärtssteigen. Balletto classico. Das Tempo wird schneller, die Füße wirbeln, trippeln, modellieren die fallende Bewegung, fangen auf, schwingen. Tonkaskaden zeichnen Landschaften mit weitem Horizont. Andere Muskeln werden aktiviert. Der Körper muss umdenken.
Denken ist Umdenken. Kopernikus ließ die Erde sich um die Sonne drehen und hat durch diese Erkenntnis das Mittelalter aus den Angeln gehoben.
Denken ist Umkehr. Das Blickfeld des Wanderers ändert sich, wenn die Passhöhe, das Joch oder der Gipfel erreicht sind oder wenn der Rückweg angetreten wird. Ein neuer Horizont, neues Licht, neue Luft durchströmt den Körper. Das Drama der Wanderung hat den Höhepunkt erreicht, versinkt in der beginnenden Dunkelheit oder hält inne.
Müde sinken wir ins Bett und schon bald erscheinen neue Bilder. Der Hexentanz auf Malettes. So heißt eine ausgedehnte, vom Wald umgebene, ebene Weidefläche oberhalb von Mals, auf der sich früher jeden Donnerstag die Hexen getroffen haben. Am Abend des betreffenden Tages kam in die Küche ein Besen durch den Kamin gefahren. Auf ihn setzten sich die Hexen und ritten darauf durch die Lüfte bis auf Malettes. Punkt zwölf Uhr Mitternacht erschien dann der Meister, der ein schwarzer Geselle war. Hierauf wurde gemeinsam getanzt und gesprungen... So erzählt Robert Winkler dieses Treiben.
Ich wollte mich selbst überzeugen, wanderte in Richtung Spitzige Lun. Aber gesehen habe ich von all dem nichts, keine Spur vom bewegten Hexentreiben. Einen blauen See habe ich entdeckt mit verzauberten Tieren und mit Blick über zahllose Gipfel, auf denen Geister wohnen.
Hans Wielander