Doppeltraktion zweier ALn 668. Im Hintergrund die Churburg bei Schluderns, ca. 1985. Foto: Dr. A. Muratori

Auch 1906 gab es „Kinderkrankheiten“

Publiziert in 15 / 2006 - Erschienen am 26. Juli 2006
Einige interessante und der breiten Öffentlichkeit wohl kaum bekannte Begebenheiten rund um den Bau, die Eröffnung und die ersten Betriebsjahre der Vinschgaubahn hat „Der Vinschger“ in der Dissertation „Geschichte des Verkehrs von Bozen nach Mals (1870 – 1914)“ aufgestöbert. Die Dissertation wurde 1977 von Waldemar Johann Lugger (Meran) an der Universität Padua eingereicht. Nachfolgend einige Auszüge daraus. Die erste Lokomotive „Am 21. Mai 1906 traf in Meran, aus Wien kommend, die erste Lokomotive der Vinschgaubahn ein. Es war eine neue, von der Firma Krauss & Comp. gebaute Tenderlokomotive der Baureihe 178 (Dn2v). In Meran wurde diese kraftstrotzende Dampflokomotive viel bestaunt. Die neue Bahnhofsanlage dieser Stadt war nahezu fertig. Ingenieure und Bahnarbeiter mühten sich beim Legen der Weichen und Signalanlagen. Maler, Poliere und Tischler legten letzte Hand an die Hochbauten.“ Raufexzesse unter Arbeitern „Über das Treiben der Bahnarbeiter im Vinschgau und in Meran berichten die lokalen Zeitungen wenig. In den seltenen Artikeln äußern sie sich lobend über ihren Arbeitseifer und ihr Verhalten. Von den vielen Tausenden kam ein hoher Prozentsatz aus dem Kronland Krain, aus dem Trentino, dem nahen italienischen Königreich, besonders der Lombardei und Venetien. Weniger vertreten waren montenegrische und makedonische Bahnarbeiter. Deutscharbeiter fand man meist unter den Handwerkern an den Stationsbauten. Zu größeren Raufexzessen kam es Ende März 1906 in Schlanders. Etwa 50 – 60 montenegrische und makedonische Arbeiter gerieten in Streit. Angeblich spielte nationaler Haß eine Hauptrolle. Sie schlugen mit den Handwerkszeugen (Schaufel, Pickel, Eisenstangen) aufeinander ein. Vier schwerverletzte Männer mussten in das Schlanderser Krankenhaus gebracht werden. Alle an der Schlägerei Beteiligten wurden fristlos entlassen und sofort abgeschoben. Zwei der Rädelsführer ließ man festnehmen. Am 15. April kam es in einer Arbeiterbaracke in Kastelbell beim Moraspiel zu einer Messerstecherei. Ein italienischer Arbeiter verletzte dabei einen aus dem Bezirk Trient stammenden jungen Mann schwer. Zu national motivierten Sticheleien und kleineren Wirtshausraufereien kam es verhältnismäßig oft.“ Die Tage vor der Eröffnung „Schon seit Wochen war die Bevölkerung in den Dörfern längs der ganzen Bahnstrecke eifrig tätig. Häuser, Straßen und Plätze wurden gekalkt, gekehrt und aufgeräumt (im Übereifer hat man angeblich sogar verschiedene Fresken und Sonnenuhren übertüncht). Der Eröffnungszug sollte in allen Stationen halten. Überall wollten die lokalen Honorationen und die Bevölkerung dem erwarteten Vertreter des Kaisers, Erzherzog Eugen, huldigen. Standschützen, Feuerwehr, Musikkapellen und Schulkinder hatten anstrengende Tage der Vorbereitung hinter sich. Besonders eilig hatte es das Festkomitee der Marktgemeinde Mals. Hier sollte zum Abschluß der Eröffnungsfahrt die kirchliche Einweihung der Bahnanlagen erfolgen und im Hotel ‚Post’ ein Festessen für die Ehrengäste stattfinden.“ Der Kurort im Fahnenschmuck „Am Samstag, dem 30. Juni 1906, zeigte sich der Kurort in vollem Fahnenschmuck. Schon in aller Früh zog die Meraner Bürgerkapelle spielend durch die Straßen der Stadt. Man erwartete den Eisenbahnminister Dr. Julius von Derschatta. Kurz vor 13.00 Uhr traf er, mit einem Sonderzug aus Wien kommend, in Meran ein. Die höchsten Vertreter der Stadt und die führenden Beamten der k.k. Bauleitung empfingen ihn. Begleitet von einer großen Anzahl von Würdernträgern bezog er Quartier im Hotel ‚Erzherzog Johann’. Um 5.00 am Abend rollte, geführt von Baurat Groß, der Sonderzug seiner Hoheit des Erzherzog Eugen an.“ Der 1. Juli „Ein herrliches Wetter und damit gute Stimmung brachte der Sonntag, der 1. Juli 1906. Um 7.40 Uhr früh fuhr der erste Zug mit den Reservisten der Meraner Bürgerkapelle und der Algunder Nationalkapelle ab nach Mals. Um 9.00 sollte der Eröffnungszug auslaufen.“ „Endlich betrat der Erzherzog Eugen den Bahnsteig. Die Soldaten standen stramm und die Volksmenge jubelte. Die kaiserliche Hoheit bestieg gleich seinen Salonwagen, gefolgt von den höchsten Persönlichkeiten. Wenige Minuten darauf setzte sich der Festzug – elf Personenwagen, gezogen von zwei reichlich geschmückten Lokomotiven – in Bewegung.“ Wein für den Erzherzog „Interessant war die Fahrt über die Strecke durch den Muhrkegel der Latschander. Die drohend aufragenden Hänge dieses tiefen Bahneinschnittes waren durch sich kreuzendes Reisggeflecht gesichert. In Latsch kredenzten zwei Mädchen, Töchter des Wirtes Schweitzer, dem Erzherzog einen Trunk Wein aus silbernem Krug. Zum Dank erhielten beide goldene Armbänder.“ Langer Halt in Schlanders „Lange Zeit stand der Festzug in der Station Schlanders. Hier hielt Bürgermeister Dr. Tinzl eine längere Rede. Erzherzog Eugen dankte und überreichte diesem Vorkämpfer des Bahnbaus eine goldene Tabakdose mit den Initialen des Kaisers in Brillanten.“ „In Laas hielt ein kleiner Bauernbub, Heinrich Luggin, in unverfälschtem ‚Vinschgerisch’ eine kurze Anprache. Eyrs kredenzte Schnaps und Äpfel. Inzwischen war es halb ein Uhr geworden und man drängte zu schnellerer Fahrt. An Schluderns, mit der fahnengeschmückten Churburg, vorbei eilte der Zug gegen Mals. Dort, an der Endstation, kam man etwa um 1.30 Uhr Mittag an. Böllerschüsse hatten die Einfahrt des Eröffnungszuges angekündigt.“ Die Worte des Erzherzogs Die Festrede in Mals hielt der Präsident des Verwaltungsrates der Vinschgaubahn, Dr. Julius Perathoner. Er zeigte sich überzeugt davon, dass durch diese Bahn das Wohl des Vinschgaues und die Interessen der Kurstadt Meran entschieden gefördert worden seien. Der Erzherzog antwortete unter anderem: „Der Schienenstrang, welcher die altehrwürdige Stadt Bozen mit dem Kurorte Meran verbindet, hat jetzt seine natürliche Verbindung in das Gebiet gefunden, welches schon von altersher im Verkehrsleben eine wichtige Rolle zu spielen berufen war. Alle Produkte dieser Gegend, seien sie nun von Bauern in mühevoller Arbeit dem Boden abgerungen, seien sie von der geschickten Hand des Gewerbetreibenden erzeugt, sie werden nun zum Nutzen und Frommen der arbeitsamen Bevölkerung mit modernen Transportmitteln einer intensiven Verwertung zugeführt. Möge der neue Verkehrsweg durch Gottes Gunst neues Leben, gesunden Unternehmergeist und wahren kulturellen Aufschwung in das Vinschgau tragen, dann werden die Opfer des Bahnbaues sich reichlich lohnen, und dies um so mehr, als die neue, heute eröffnete Linie nur den Anfang jenes großen Verkehrsweges bedeutet, dessen Ausführung ein allgemeiner Wunsch und hoffentlich in nicht weite Ferne gerückt ist.“ Auf der Menukarte beim Festessen stand: „Eröffnung der Vinschgaubahn, erste Teilstrecke“. (Gedacht wurde an eine Fortsetzung der Linie in die nahe Schweiz und in erster Linie nach Landeck Anm. d. R.). „Kinderkrankheiten“ „Der Betrieb der neuen Lokalbahn Meran - Mals litt in den ersten Monaten nach der Eröffnung häufig an ‚Kinderkrankheiten’. Die Züge liefen oft mit starker Verspätung und waren, besonders im August des Jahres 2006, so überfüllt, dass Passagiere der 3. Klasse mitunter in die wenigen Abteile der 1. Klasse gedrängt werden mussten. Klagen der Passagiere waren anfangs an der Tagesordnung. Der Grund der Überfüllung dürfte daran gelegen haben, dass die Betriebsleitung das Verkehrsaufkommen der sommerlichen Reisesaison bedeutend unterschätzt hatte.“ Überreifes Schwellenholz führt zu Unfall „Am 23. Juli, also 22 Tage nach den Eröffnungsfeierlichkeiten entgleiste ein gemischter Zug auf der Fahrt von Meran nach Mals bei km 62,8, zwischen Latsch und Goldrain. Die Dampfmaschine holperte noch eine kurze Strecke weit über die Schwellen und kippte dann den Bahndamm hinunter, Lokomotivführer und Heizer verletzten sich schwer, die Passagiere kamen mit dem Schrecken davon. Als Ursache des Unfalls wurde überreifes Schwellenholz angegeben.“ 2 Stunden und 33 Minuten für eine Fahrt „Im ersten Jahr verkehrten zwischen Meran und Mals täglich zwei Personen- und zwei gemischte Zugpaare. Eines dieser Zugpaare verkehrte im ersten und zweiten Betriebsjahr nur an Sonn- und Feiertagen regelmäßig. Die Fahrzeit für die Betriebsstrecke von 59,828 km (Baulänge 60,408 km) schwankte zwischen 2 Stunden und 33 Minuten und 2 Stunden und 27 Minuten für die Bergfahrt, sowie zwischen 2 Stunden und 24 Minuten und 2 Stunden und 7 Minuten für die Talfahrt. Die Fahrt von Meran nach Mals kostete in der ersten Klasse 6 K 90 h und in der dritten Klasse 3 K 10 h. Abteile zweiter Klasse wurden nicht geführt.“ 290.612 Passagiere und 27.637 Tonnen Güter im Jahr 1909 „Im Jahre 1909 transportierte die Lokalbahn insgesamt 290.612 Personen und 27.637 t Güter. Dafür wurden 511.958 K oder 8.392 K pro Kilometer eingenommen. Im gleichen Zeitraum transportierte die Bahn von Bozen nach Meran 475.000 Personen und 171.000 t Güter. Die Ausgaben für die Anlage, die Einrichtungen der Lokalbahn Meran-Mals erreichten mit Ende 1909 15.488.300 K; für die Projektierung der Linie Mals-Landeck wurden bis dahin 777.000 K bezahlt.“ Welche Waren wurden transportiert? „Nach der Transportstatistik der Geschäftsberichte von 1908 bis 1914 wurden in dieser Zeit hauptsächlich folgende Waren, angeführt in der Reihenfolge des Transportgewichtes, befördert: Zement, Steine, Erden; Eisen und Stahl; Wein und Bier; Steinkohle, Braunkohle, Koks; Baumfrüchte; lebende Tiere (vor allem Hornvieh und Schafe); Bau-, Werk- und Nutzholz; Mühlenprodukte; Leergut aller Art; Getreide und Samen; Militäreffekten und Munition; Speisesalz und Zucker; Möbel und Geräte; Düngemittel und Düngesalz; Chemikalien und Farbstoffe; Kartoffeln; Fettwaren; Abfälle; Maschinen und Maschinenteile; Spirituosen und Spiritus; Südfrüchte, Tabak, Kaffe; Manufakturen, gewebt und gewirkt; Häute, Felle, Leder, Pelzwaren; Butter, Rinderschmalz, Käse; Glas, Glaswaren, Porzellan; Papier und Pappe.“
Josef Laner

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