Wo gemobbt wird, fühlt man sich nicht wohl
Publiziert in 13 / 2009 - Erschienen am 8. April 2009
Schlanders – Im letzten Schuljahr 2007/2008 wurde im Schulsprengel Schlanders von Integrationslehrerin Juliane Stocker eine sehr breit angelegte Umfrage durchgeführt. Alle Lehrpersonen, Schüler und Eltern wurden befragt, und sie konnten ihre Sichtweise zu verschiedenen Bereichen des schulischen Lebens äußern.
Für alle unerwartet war das Ergebnis der Umfrage: am meisten Handlungsbedarf besteht im Bereich „Mobbing und Gewalt“. Doch mit diesem Ergebnis steht der Schulsprengel Schlanders bei weitem nicht alleine da. Mobbing und Gewalt sind in Schulen weit verbreitet und haben auch vor Südtirols Bildungsstätten nicht Halt gemacht.
Als ersten Schritt hat der Schulsprengel Schlanders einen internen pädagogischen Tag zum Thema „Mobbing und Gewalt“ für den 14. April 2009 anberaumt.
Der Osttiroler Psychologe Reinhold Bartl, Lehrsupervisor für Systemische Therapie wird in seinem Referat zum Thema „Gewalt und Mobbing in der Schule, Präventionsmöglichkeiten“ sprechen.
von Ingeborg Rechenmacher
„Der Vinschger“ hat im Vorfeld zum pädagogischen Tag mit der Projektleiterin Juliane Stocker über die Umfrageergebnisse, über Erscheinungsformen von Mobbing und Gewalt, über „Opfer“ und „Täter“ und über geplante Maßnahmen von Seiten der Schule gesprochen.
„Der Vinschger“: Die Umfrageergebnisse Ihres Schulsprengels sprechen eine deutliche Sprache: Mobbing und Gewalt beschäftigen Schüler, Eltern und Lehrpersonen gleichermaßen und eine Auseinandersetzung damit ist dringend erforderlich. Wie sieht das Programm des pädagogischen Tages im Schulsprengel Schlanders aus?
Juliane Stocker: Wir starten mit Reinhold Bartl, Leiter des Milton Erickson Institutes Innsbruck. Sein Referat bietet vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen eine Einführung in die verschiedenen Erscheinungsformen von Gewalt und typischen Merkmalen und Auswirkungen von Mobbingprozessen. Außerdem werden Handlungs- und Präventionsmöglichkeiten sowie konstruktive Lösungsansätze für die verschiedenen Zielgruppen (Schüler/Innen, Lehrpersonen und Eltern) aufgezeigt. Danach findet ein interessanter Parcours zum Thema „soziales Lernen“ statt und am Nachmittag stehen verschiedene Workshops auf dem Programm. Die Workshops dienen als einführende Elemente in das komplexe Thema „Mobbing und Gewalt in der Schule“.
Wo liegen die Ursachen für Mobbing und Gewalt?
Juliane Stocker: Gewalt an Schulen ist kein „neues“ Phänomen. Außenseiter gab es in den Schulen schon immer. Viele aktuelle Studien zeigen jedoch, dass sich die Qualität von Übergriffen verändert hat und dass die Ursachen von Mobbing durch eine Kombination verschiedener Faktoren begünstigt werden. Die Ursachen sind komplex und sie lassen sich schwer in wenigen Worten fassen. Es kann jedoch gesagt werden, dass die Ursachen häufig im gesellschaftlichen oder im familiären Bereich zu suchen sind. Experten beobachten in den Schulen generell eine Zunahme von Mobbingprozessen und sie führen dies auch auf die gesellschaftlichen Individualisierungstendenzen zurück, mit denen vor allem Kinder und Jugendliche konfrontiert werden. Individualisierung heißt, dass Menschen immer weniger gesellschaftlich stabile Muster und Normen vorfinden, die ihnen Orientierung in ihrem Leben geben. Sie sind dadurch auf sich alleine gestellt und vor allem Kinder und Jugendliche befinden sich dann inmitten eines orientierungslosen Vakuums. Außerdem kommt hinzu, dass viele Schülerinnen und Schüler die Fähigkeiten verlieren, Konflikte konstruktiv zu lösen.
Wie manifestiert sich Mobbing unter Schülerinnen und Schülern und warum werden Warnsignale von Lehrpersonen und Eltern erst sehr spät als solche verstanden? Fehlt das „geschulte Auge“?
Juliane Stocker: Ja, der Begriff „Mobbing“ ist im schulischen Kontext mittlerweile bekannt. Er bedeutet ja soviel wie jemanden fertig machen und anpöbeln. Mobbingprozesse treten aber selten offen auf und werden zum Beispiel im Unterricht kaum eindeutig wahrgenommen. Aus diesem Grund ist es weder für Lehrpersonen noch für Eltern einfach, diese Prozesse zu erkennen. Mobbing findet im Verborgenen, in den Nischen des Systems „Schule“ statt und versteckt sich unter scheinbar harmlosen Auseinandersetzungen; beispielsweise wenn Schüler ausgelacht, beleidigt und beschimpft werden, wenn über sie Gerüchte verbreitet oder ihre Sachen andauernd versteckt werden, oder wenn Schulsachen willentlich kaputt gemacht werden und diese Opfer angerempelt, herumgestoßen, erniedrigt und ausgeschlossen werden. Erst ganz am Ende dieser Aufzählung steht die körperliche Gewalt. Dieser Aspekt wird allerdings viel zu oft überbetont. Die besondere Qualität von Mobbing und der Unterschied zu anderen Übergriffen bestehen darin, dass Mobbing System hat. Ein momentaner Konflikt unter Schülern muss noch nicht Mobbing sein. Denn Mobbing umfasst typische über einen längeren Zeitraum immer wiederkehrende Handlungen. Das Opfer steht einem oder mehreren Tätern allein gegenüber und ihm gelingt es nicht, aus eigener Kraft diese Mobbinghandlungen zu beenden. Das Opfer wird nicht „einmal“ gedemütigt, sondern jeden Tag aufs Neue. Wenn das Opfer seinen Fuß in die Tür setzt, fürchtet es sich schon vor neuen Attacken. Mitschüler werden dabei schnell zu Täterkomplizen aus Angst selbst zum Opfer zu werden. Die Muster sind also sehr vielschichtig und aus diesem Grund wird an unserer Schule der pädagogische Tag organisiert. Wir wollen den Blick dafür schärfen und sensibilisieren, um präventiv gegen Mobbingprozesse vorzugehen.
Mobben Jungs anders als Mädchen?
Juliane Stocker: Ja, das kann man wohl so sagen. Jungen und Mädchen unterscheiden sich stark darin, wie sie in Mobbingsituationen agieren. Jungs sind häufiger Täter und Opfer zugleich und sie zeigen sich eher aggressiv. Mädchen mobben subtiler, sie verlagern das Ganze auf eine verbale Ebene, auf Manipulation oder soziales Ausgrenzen.
Die Folgen von Mobbing und Gewalt wirken sich auf die gesamte Persönlichkeit aus: was sind die Auswirkungen und welche Verhaltensweisen können mögliche Anzeichen von Mobbing sein?
Juliane Stocker: Mobbingopfer sprechen selten über ihre Situation. Das kann anfangs aus Scham sein, und später spielt die Angst eine entscheidende Rolle. Das Opfer befürchtet, wenn es darüber spricht, alles noch schlimmer zu machen. Lehrpersonen und Eltern haben es daher schwer, auf betroffene Schülerinnen und Schüler aufmerksam zu werden. Andererseits kann man aber auch eindeutige Verhaltensveränderungen bei Mobbingopfern erkennen. Sie beginnen leise zu sprechen, schweigen häufiger und sie reagieren oft unerwartet aggressiv. Das Selbstwertgefühl leidet immer mehr darunter. Die Betroffenen wirken nervöser und unsicherer. Kinder ziehen sich zurück und es kommt oft auch zu einem starken Leistungsabfall. Kinder wollen nicht mehr zur Schule gehen, die Konzentration lässt nach und Symptome bis hin zu unspezifischen körperlichen Beschwerden treten auf. Nachts schlafen sie schlecht, werden von Alpträumen geplagt und wirken daher müde. Wenn man solche Veränderungen und Verhaltensweisen beobachtet, ist es immer angebracht, darauf zu reagieren.
Haben „Opfer“ und „Täter“ bestimmte Persönlichkeitszüge, die sie zu dem machen, was sie sind. Welche Tendenzen kann man beobachten?
Juliane Stocker: Wie gesagt, Täter sind meistens Jungs und das Mobbingverhalten ist überwiegend auf Personen des eigenen Geschlechts gerichtet. Daher sind auch Opfer überwiegend Jungs. Die Täter zeigen häufig ein impulsives Verhalten und besitzen wenig Selbstkontrolle. Ein aggressiver Durchsetzungswille und Machtansprüche stehen dabei im Vordergrund. Zumeist sind sich die Täter ihrer eigenen Stärken bewusst, aber gleichzeitig haben sie ein geringes Selbstwertgefühl. Ihr Repertoire an Konfliktlösungsstrategien ist begrenzt und unangemessen.
Aber auch die Opfer verfügen vielfach über ein mangelndes Selbstwertgefühl; bei den Opfern unterscheidet man zwei Typen: das passive und das provozierende Opfer. Passive Opfer sind körperlich eher schwächer, als Persönlichkeitstypen ängstlicher, unsicherer und in der Klasse oft stiller. Sie reagieren auf Angriffe mit Weinen und Rückzug. Provozierende Opfer hingegen sind insgesamt auffälliger und bieten damit Angriffsflächen für Täter. Sie haben das Bedürfnis, sich in den Vordergrund zu spielen und werden dabei von der Klasse abgelehnt. Obwohl Persönlichkeitsmerkmale feststellbar sind, heißt dies nicht, dass Schülerinnen und Schüler mit diesen Merkmalen automatisch zu Opfern werden. Es gilt, dass Opfer grundsätzlich keine Schuld an ihrer Rolle haben, und prinzipiell kann ein jeder zum Opfer werden.
Mobbingopfer brauchen Unterstützung von außen. Welche Maßnahmen gegen Mobbing können Betroffene, Schulkameraden, Lehrpersonen und Eltern treffen?
Juliane Stocker: Von den Vereinten Nationen wird gefordert, dass Schulen sichere und schülerfreundliche Orte sein sollten. Alle Schüler haben das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung! Dafür trägt die Schule Verantwortung und sie muss professionell gegen Mobbing vorgehen. Es gibt die unterschiedlichsten Handlungsstrategien und Anti-Mobbing-Konzepte. Die Grundlage ist allerdings immer eine erfolgreiche gewaltpräventive Arbeit, die ein positives soziales Schulklima unterstützen soll. Das Einbeziehen der Schüler/Innen in den schulischen Alltag, eine gelungene Lehrer/Schülerbeziehung und ein gewisses Wir-Gefühl sind dafür ausschlaggebend. Unumgänglich sind klare und verbindliche Regeln für alle, sowie transparente Konsequenzen bei Regelverstößen. Die Schule hat die Aufgabe den Schüler/Innen Orientierung zu bieten. Genauso wichtig ist, mit der Gewaltprävention bereits in der Grundschule zu beginnen. Dadurch können Schüler/Innen frühzeitig sozialverträgliches und sozial erfolgreiches Verhalten erlernen. Darüber hinaus ist eine „partnerschaftliche“ Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen und Eltern sehr wichtig. In meinen Augen muss in der Schule eine orientierungsgebende inklusive Pädagogik im Vordergrund stehen, das willkommen Heißen der Vielfalt aller Menschen, unabhängig von irgendwelchen Eigenschaften und Zuschreibungen, um Mobbingprozesse schon in den Ansätzen zu vermeiden.
Mobbing aus der Sicht der Schulleitung
Schulsprengeldirektor Hemuth Mathà: „Aus der Perspektive der Schulleitung präsentiert sich das Phänomen Mobbing häufig als ein schulisches Randproblem. Mobbingprozesse verlaufen sehr subtil und werden manchmal auch von der engsten Umgebung entweder nicht wahrgenommen oder verschwiegen. Tatsache ist, dass ich als Schulleitung selten diesbezüglich intervenieren musste. Trotzdem wurde ich in letzter Zeit mehrmals mit diesem Problem konfrontiert. Dabei war es für mich sehr schwer zu beurteilen, ob es sich bei den ‚Fällen’, die auf meinem Schreibtisch gelandet sind, tatsächlich um Mobbing- (im Sinne eines systematischen, über einen längeren Zeitraum andauernden Vorganges) oder ob es sich eher um akute Konfliktfälle handelte. Unabhängig davon aber bin ich mir sicher, dass es dieses Problem an unserer (wahrscheinlich an allen) Schulen gibt. Dabei sind wir bisher zwar von spektakulären Fällen verschont geblieben, was aber nicht heißen will, dass es in unserer Schule nicht die tägliche Gewalt gibt, die auch sehr viel Leid bei den Betroffenen erzeugen kann. Dass Handlungsbedarf besteht, hat eine breit angelegte Umfrage (Eltern, Lehrpersonen, Schüler) ergeben. Mit dem Pädagogischen Tag wollen wir ein Zeichen setzen, ohne uns aber der Illusion hinzugeben, dass wir damit das Problem endgültig lösen werden. Das Anliegen des Pädagogischen Tages ist es vor allem die Beteiligten zu sensibilisieren und gleichzeitig aufzuzeigen, dass man diesem Phänomen nicht hilflos ausgesetzt ist, sondern dass es Instrumente gibt, um professionell zu handeln. Insofern ist der Pädagogische Tag eine Art Startschuss. Es liegt im Ermessen der Lehrpersonen und der Eltern wie und in welchem Umfang dieses Angebot genutzt wird. Als Schulgemeinschaft werden wir aber weiterhin aufmerksam die Entwicklung beobachten und wir werden uns eventuell durch eine weitere Umfrage Rückmeldung dazu einholen, ob unsere Bemühungen erfolgreich waren. Dabei werden wir unser Hauptziel nie aus den Augen verlieren: nämlich eine Schule anzustreben, in der gut gelernt wird. Und es ist eine Tatsache, dass man nur dann gut lernt, wenn man sich ‚wohl fühlt’. In Schulen wo gemobbt wird, fühlt man sich nicht wohl.“
Ingeborg Rainalter Rechenmacher