Ein Schnalser mit Akzent
Publiziert in 9 / 2002 - Erschienen am 9. Mai 2002
Silvano’s Muttersprache ist italienisch. Spricht er im Vinschger Dialekt, so verrät ihn sein Akzent. Während der 43 Jahre im Schnalstal hat er einen Gutteil seines italienischen Wortschatzes vergessen, seine italienische Kultur verlernt. Geboren wurde er 1937 in Folgaria, auf einem Hochplateau in der Provinz Trient. In den 50er Jahren gehörte er zu den Privilegierten seines Heimatortes, die die Lehrerbildungsanstalt in Trient besuchen konnten. Nach dem Abschluss gab es für ihn kaum eine Arbeitsmöglichkeit in seiner Heimatprovinz. Aber in der aufstrebenden, deutschsprachigen Nachbarprovinz Südtirol waren Italienischlehrer gesucht. Voraussetzung dafür: der Wohnsitz in der Provinz Bozen. Um diese Bedingung zu erfüllen, fuhr Silvano Pergher nach Meran, arbeitete über ein Jahr als Sekretär in einem Jugendheim und hoffte, dass die Zeit möglichst schnell verging. Dann, im Herbst 1959 klappte es. Eine Stelle als Lehrer im Schnalstal war noch unbesetzt.
Die Nacht war kalt und es regnete heftig. Gerade so, als ob der Herrgott Pergher davon abhalten wollte, sich in das damals noch abgeschiedene Schnalstal aufzumachen. Er ließ sich nicht davon abhalten. Endlich sollte er als Lehrer sein erstes Geld verdienen. Mit dem Autobus fuhr er nach Unser Frau. Die Ankunft in Schnals war mehr als kühl. Lange irrte er in der stockfinsteren Nacht umher, bis er ein Gasthaus zum Übernachten fand.
„Und dann begannen die Überraschungen“, so Pergher vieldeutig. Er hatte Hunger, furchtbaren Hunger. Die Wirtin des Gasthauses bot ihm zu dieser späten Stunde ein Reisgericht an und er freute sich nach Stunden auf etwas Warmem für seinen Magen. Im Geiste stellte er sich die heiße Reissuppe seiner Mutter vor. Was er dann auf den Tisch gesetzt bekam, ähnelte in keiner Weise seinen Vorstellungen. Es gelang ihm beim besten Willen nicht, den Milchreis mit Zimt und Zucker zu schlucken. Und der Magen knurrte weiter. Die Umstellung von italienischer auf tirolerische Kost machte ihm auch in den folgenden Monaten arg zu schaffen. Erschrocken war er über die verrußte, schwarze Küche. Eine Selchküche. Das habe er wirklich nie gesehen.
„Wo bin i denn do?“, fragte er sich immer wieder. Auch am nächsten Morgen, als er aus seinem Zimmerfenster schaute. Das eingeschränkte Blickfeld irritierte ihn. Erst im zweiten Moment wurde ihm klar, dass die hohen Berge dies verursachten.
Sechzehn Jahre lang pilgerte er zwischen den Schulen in Unser Frau, Vernagt und Kurzras hin und her. Viele Male zu Fuß, weil es im Tal nur eine Busverbindung bis Unser Frau gab. Nur wenige Autos befuhren die holprige Talstraße und er konnte sich mit seinem bescheidenen Lohn kein eigenes Fahrzeug leisten.
Seine Schüler, Kinder der umliegenden Bergbauernhöfe, mussten sich früh morgens auf den Weg machen um rechtzeitig in die Schule zu kommen. Während der kalten Jahreszeit beobachteten sie den Weg von Unser Frau nach Vernagt und Kurzras mit Adleraugen: Kommt der Italienischlehrer heute oder hat ihn der Schneesturm vom einstündigen Fußmarsch abgehalten? „Iatz kimm er dechtersch”, haben sie mit enttäuschten Gesichtern gemurmelt, als sie ihn den Weg hochstapfen sahen, erzählt Silvano Pergher lachend. Und stolz fügt er hinzu: „Ich habe nie gefehlt“.
Trotz der harten Anfänge hat er sich sehr schnell angepasst. 1961 wollte das Schicksal von Silvano Pergher nochmals ganz genau wissen, wie überzeugt er von einem Leben im Schnalstal ist. Er wurde zum Militärdienst nach Neapel einberufen; eine Gelegenheit seinen Lebensweg abseits des Vinschger Seitentales fortzusetzen. Aber Silvano Pergher kehrte zurück: „Das war Schicksal“. Eine Schnalserin war der Grund für seine Entscheidung, seine Frau Anna Gamper. Ihre drei Kindern - sie haben alle drei ein abgeschlossenes Hochschulstudium - sind mittlerweile aus dem Haus, mit ihnen spricht er kaum Italienisch. Silvano sah nicht die Notwendigkeit dafür. Anpassung ist seiner Meinung nach die Voraussetzung, um im Tal leben zu können. Die Sehnsucht, seine Muttersprache zu verwenden, verging mit den Jahren. Es gab kaum Gelegenheit dazu, meint so Pergher. In den letzten Jahren sei dies besser geworden, weil sich einige italienischsprachige Beamte im Tal niederließen.
„Jede Person soll respektiert werden. Tust du das, so kriegst du auch Respekt“, ist seine Einstellung. Und Silvano Pergher hat sich sehr angepasst. Das beweist die Auflistung der übernommenen Ämter und Tätigkeiten. Er ist Mitgründer des Fußball-, Eissport-, Fischer- und des Kulturvereins. Zwischen 1975 und 1992 war er Direktor des Tourismusbüros und seit der Eröffnung des Archeoparces von dort nicht mehr wegzudenken.
Er führt heute die italienischsprachigen Ötzi-Besucher durch die ausgedehnte Parkanlage. Ganz so wie ein eingefleischter Schnalser, ein Nachkomme Ötzis. Nur der Vinschger Dialekt mit dem italienischen Akzent verrät ihn.
Andrea Kuntner