„Schweigen ist keine Option“
Ein Film über sexualisierte Gewalt und den schwierigen Weg zur Sichtbarkeit. Damaris Kosel aus Matsch erzählt ihre Geschichte.
Matsch - Ein Abend, der vieles veränderte. Ein Vorfall, der die ganze Lebensperspektive in Frage stellt. „Ich hatte einfach das Glück, dass ich nicht zerbrochen bin“, sagt Damaris Kosel im Gespräch mit dem der Vinschger. Stattdessen fand sie den Mut, über die sexualisierte Gewalt, die brutale versuchte Vergewaltigung, die ihr damals angetan wurde, zu sprechen. Und zwar im Film mit dem passenden Namen „(K)einen Ton sagen“ von Georg Lembergh. Der Tiroler Filmemacher lässt vier Betroffene sprechen und geht der Frage nach, wie es ihnen heute geht. Er will sensibilisieren – in einer Gesellschaft, die noch weit von einer Aufarbeitung entfernt scheint. „Es gilt, die sexualisierte Gewalt zu sehen, zu benennen und Verantwortung zu übernehmen. Die Gesellschaft muss ins Handeln kommen, sonst ist es ein Schlag ins Gesicht für Betroffene“, bringt Damaris die Intention des Films auf den Punkt. Mit großem Mut schildern die vier Frauen aus Nord- und Südtirol das, was ihnen angetan wurde – etwa im familiären Umfeld, im Urlaub oder in der Kirche. Sie sprechen über die Folgen des Erlebten, über Angst, Scham, Drohungen und darüber, wie sie lernten über die Vorfälle zu reden. Sie berichten über ihren schweren Weg und wie sie sich mit viel Kraft wieder ins Leben zurückkämpften. Damaris, Jahrgang 1973, aufgewachsen im schweizerischen Schaffhausen, aber bereits seit sie 19 Jahre alt ist im oberen Vinschgau daheim, spricht offen über ihre Geschichte.
Verletzung, Trauma, Mut
Sie erinnert sich noch genau an die Tat. Diese ereignete sich 2018. „Mein Lebenspartner Karl war noch auf der Alm in der Schweiz, wo wir über den Sommer angestellt waren, um die Saison abzuschließen“, erzählt sie. Damaris war mit den Kindern schon nach Hause gefahren, da die Schule begonnen hatte. Ein Bekannter der Familie kam am Abend vorbei, um eine Traktorschaufel zu holen. Unter Vorwänden betrat er das Haus und versuchte Damaris zu vergewaltigen. Nur mit großer Mühe konnte sie sich wehren. „Er sagte, ich solle mich nicht so anstellen, er wisse, dass mein Lebenspartner nicht zu Hause sei. In meiner Erstarrtheit habe ich nur noch funktioniert, es war ein richtiger Kampf.“ Ebenfalls im Haus befand sich die gemeinsame Tochter von Damaris und Karl, damals gerade mal vier Jahre alt. „Ich hatte Angst, er würde auch ihr etwas antun, wenn ich es nicht schaffen würde, mich zu wehren“, schaudert es Damaris noch heute. Als der Täter von ihr abließ und verschwand, blieb sie körperlich verletzt und innerlich wie gelähmt zurück, nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Seelisch war der Bruch tief. „Ich hätte mir nie gedacht, dass so etwas passieren kann, dass ein Mensch ohne Grund so massive Gewalt ausüben kann und seine Machtposition skrupellos missbraucht“, sagt sie.
Ein halbes Jahr lang brauchte Damaris, um wieder voll arbeitsfähig zu sein, besonders psychisch benötigte sie Zeit, um wieder Halt zu finden. Das Schweigen über das Geschehene war aber nie eine Option: „Es wird oft nicht über solche Taten gesprochen. Es gibt Orte, da weiß es die ganze Dorfgemeinschaft – und trotzdem wird geschwiegen. Das wollte ich nicht.“ Besonders belastend war für sie, dass der Täter sofort versuchte, die Geschichte umzudeuten. Ihrem Lebensgefährten gegenüber behauptete er, Damaris habe es „falsch verstanden“, sich „vieles nur eingebildet“. Eine Taktik, wie sie viele Täter/innen anwenden. „Wie man es halt kennt“, sagt Damaris nüchtern. Doch sie konnte mit Karl offen sprechen und fand in ihm schließlich auch Halt und Unterstützung.
Ein steiniger Weg
Damaris erstattete Anzeige. Doch das Verfahren verlief schleppend. Die lückenhafte Dokumentation und fehlende Fotos im Krankenhaus waren zu wenig, um eindeutige Beweise zu sichern. Das Ermittlungsverfahren zog sich in die Länge. Damaris nahm selbst einen Rechtsanwalt, später wechselte sie zu einem anderen. Nach langem Ringen entschied sie sich für einen Vergleich, der ihr von der Gegenpartei angeboten wurde. „Es hätte Jahre dauern können, das hätte ich mit Familie und Beruf kaum geschafft.“ Für Damaris war das schriftliche Geständnis des Täters ein wichtiger Punkt und entscheidend für den Vergleich. „Es war mir wichtig, die Tat sichtbar zu machen. Und der Täter sollte zu seiner Tat stehen, benennen, dass er eine Straftat begangen hat und die Konsequenzen mit sich trägt.“ Für sie war damit das Verfahren abgeschlossen. „Wenn ich keine Familie hätte, wäre ich weitergegangen. So jemand gehört vom Gericht verurteilt und mit einer gerechten Strafe versehen, obwohl es für solche Taten meiner Meinung nach nie eine gerechte Strafe geben wird.“ Nach der Veröffentlichung ihres Erlebten meldeten sich weitere Betroffene. Leider waren diese Fälle bereits verjährt. Dem Täter begegnet sie bis heute ab und zu, was Damaris wie auch Familienangehörige psychisch stark mitnimmt. „Manche Leute sagen dem Täter offen, was sie von ihm halten“, erzählt sie. „Es ist wichtig, Täter/innen nicht durch das Schweigen zu schützen. Nicht die Betroffenen sollen flüchten müssen und in Panik leben, die Täter/innen müssen wirksam und effektiv zur Verantwortung gezogen werden.“
Schweigen ist keine Lösung
Für Damaris war schnell klar, dass sie mehr tun wolle, als nur ihre eigene Geschichte zu erzählen. „Ich möchte dazu beitragen, in der Gesellschaft etwas zu verändern. Über sexualisierte Gewalt wird immer noch kaum gesprochen.“ So wurde sie vor einigen Jahren auf die Anzeige von Filmemacher Georg Lembergh im Dolomiten-Magazin aufmerksam. Er suchte Betroffene für ein Filmprojekt. Rund 50 meldeten sich. Darunter Damaris. „Ich sehe es als Aufgabe für mich, jenen eine Stimme zu geben, die selbst nicht sprechen können.“ Der Film „(K)einen Ton sagen“ entstand, im November 2024 fand die Premiere in Bozen statt. Für Damaris war es ein weiterer Schritt der Verarbeitung und im Entwicklungsprozess, von dem hart erkämpften wiedergefundenen Lebenssinn etwas weiterzugeben. Darüber zu sprechen wecke jedes Mal Emotionen, aber nicht nur negative. „Ich will schließlich etwas bewirken, ich will Mut machen“, sagt sie. Dass im Film ausschließlich weibliche Stimmen zu Wort kommen, bedauert sie. Es hätten sich auch Männer gemeldet. „Doch sie hatten am Ende nicht die Kraft, darüber im Film zu sprechen. Bei Männern ist das Tabu zu reden leider oft noch größer“, meint Damaris.
Gesellschaftliche Verantwortung
Was Damaris sich vom Film erwartet? „Dass über sexualisierte Gewalt und Missbrauch gesprochen wird, dass sich die Gesellschaft als Teil dieses Phänomens sieht und jeder einzelne Verantwortung übernimmt. In Südtirol bewegt sich endlich etwas. Das Schweigen soll aufgebrochen werden. Ich will anderen Mut machen und sagen: Schau, du bist nicht allein.“ Man dürfe nicht wegschauen; in Familien, der Kirche, Vereinen, in der Nachbarschaft, beim Ausgehen, in Schulen. „Jeder kann etwas tun“, sagt die 52-jährige Matscherin mit Nachdruck.
Tatsächlich ist das Thema in den letzten Monaten stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Anfang des Jahres wurde in Bozen das erste unabhängige Missbrauchsgutachten zur Südtiroler Kirche vorgestellt. Eine Münchner Anwaltskanzlei dokumentierte zwischen 1964 und 2023 67 Vorfälle mit 59 minderjährigen Betroffenen und 41 beschuldigten Klerikern. Die Dunkelziffer gilt als hoch. „Ich finde es richtig, dass das nun öffentlich und im Internet einsehbar ist“, sagt Damaris. Sie unterstreicht auch, dass es wichtig sei, die Empfehlungen wahrzunehmen und umzusetzen, besonders die Empfehlung im Gutachten hinsichtlich eines unabhängigen Interventionsteams. Den neuen Gesetzesentwurf des Landes Südtirol zum Thema sexualisierte Gewalt begrüßt sie. Dieser sieht die Einrichtung einer unabhängigen und weisungsfreien Ombudsstelle vor, einen wissenschaftlichen Beirat, zur Beleuchtung, Untersuchung und Aufarbeitung von sexueller Gewalt. Auch ein Betroffenenbeirat soll eingerichtet werden, als Interessenvertretung jener, die sexualisierte Gewalt erlebt haben und sich somit als Wissende einbringen können. Er soll Impulse geben, vernetzen, das Thema in die politische und gesellschaftliche Debatte bringen. Ein Anliegen ist Damaris auch die Prävention. Ihrer Meinung nach muss sexuelle Bildung in verschiedenen Bereichen wie Schulen, Elterngruppen, Vereinen, Kinder- und Jugendeinrichtungen implementiert werden – behutsam und altersgerecht, aber klar. „Kinder müssen benennen dürfen, wo sie ihre Grenzen spüren, und dabei auf absolute Akzeptanz des Gegenübers zählen können. Und sie müssen lernen, dass sie diese Grenzen verteidigen dürfen und auch wissen, wo sie Unterstützung bekommen, wenn ihr Nein ignoriert wird.“ Sie spricht sich für gut ausgebildete Sexualpädagoginnen und -pädagogen aus, die kindgerecht und professionell arbeiten. Hierbei sei auch die Politik gefordert, um genügend Geldmittel zur Verfügung zu stellen.
„Das ist meine Geschichte“
Damaris ist es generell wichtig, auf sexuelle Gewalt aufmerksam zu machen, darüber zu sprechen, die Gesellschaft zu sensibilisieren, damit sie ins Handeln kommt. Sie betont aber auch, dass sie keine wissenschaftliche Expertin sei, sondern Betroffene. Ihre Gedanken aus ihren Erfahrungen seien nicht allgemein gültig und nicht auf andere Betroffene übertragbar. „Auch mein Weg, wie ich mein Leben wieder als lebenswert empfinde, ist nur mein Weg. Das ist meine Geschichte. Es sind meine Gedanken zu reflektierten Erfahrungen, mein Prozess, in dem ich mich aktiv mit meinen Gefühlen und Werten auseinandergesetzt habe“, sagt sie. Und genau deshalb gelte es zu sprechen. Einen, oder noch besser, ganz viele Töne zu sagen.