Gefühlsvorrang
Publiziert in 37 / 2016 - Erschienen am 19. Oktober 2016
Egal ob die Briten mit Unwahrheiten in den Brexit gesteuert sind oder sich Donald Trump mit Lügen und Wortverdrehungen durch den Wahlkampf pöbelt – das Adjektiv der Stunde ist „postfaktisch“. Gemeint ist die Tatsache, dass Tatsachen in der Politik einen immer geringeren Stellenwert besitzen. Viel wichtiger als der Informationswert ist der Effekt, den eine Aussage hervorruft. Also, schauen, was passiert, anstelle von schauen, ob es stimmt. Für eine Demokratie ist eine solche Haltung nicht ungefährlich. Wie sollen Probleme in einer gemeinsamen Diskussion gelöst werden, wenn Tatsachen als Grundlage an Bedeutung verlieren? Jeder hat zwar das Recht auf eine eigene Meinung, aber – so wird häufig bemerkt – niemand besitzt das Recht auf eigene Fakten. Auch nicht außerhalb der Politik. Wenn aber Tatsachen gegenüber persönlichen Gefühlen eine untergeordnete Rolle spielen, dann ist das fast so, als würde man medienwirksam herumposaunen, im Vinschgau befände sich die beste Oberschule des Landes, eine problemfreie Wohlfühloase in der pädagogischen Wüste. Willkommen im postfaktischen Zeitalter!

Christian Zelger