Auf der Bühne und am Friedhof
Publiziert in 19 / 2005 - Erschienen am 6. Oktober 2005
Er hat in München Philosophie studiert, in Innsbruck Theologie und in Wien und St. Petersburg Schauspiel. Was Hannes Benedetto Pircher aus Naturns am meisten liebt, ist das Theater. In Naturns hat er im September die Operette „Stich ins Tirolerherz" inszeniert. Der Erfolg war groß. Hannes Benedetto Pircher, Sohn des Bundesobmannes des Südtiroler Sängerbundes Josef Pircher, hat aber noch einen anderen Beruf. Er hält im Auftrag der Bestattung Wien jährlich an die 500 Grabreden.
„Der Vinschger": Seit wann leben Sie in Wien und wie kamen Sie zum Beruf des Grabredners?
Hannes Benedetto Pircher: Ich lebe in Wien seit 1996. Die Grabrednerei ist sicher kein Beruf im herkömmlichen Sinne. Für mich persönlich hat sie mit Berufung zu tun. Es gibt ja auch kein Berufsbild „Grabredner“. Auch gibt es keine spezifische Ausbildung zum Grabredner. Andererseits mag für einen guten Grabredner gelten, worin bereits Cicero die Qualitäten des Redners (orator) ganz allgemein auszumachen weiß: er sollte ein ganzer Philosoph sein und zugleich eine im tiefsten Wortsinn politische Persönlichkeit. Mit der Grabrednerei angefangen hat es so, dass mich Freunde, nicht selten Schauspielerkollegen, immer wieder angesprochen haben, ob ich denn nicht für ihre verstorbene Mutter oder Freundin ein paar Worte am Grab sagen bzw. eine kleine Trauerfeier gestalten könne. Viele Menschen einer Großstadt haben mit den Kirchen nichts mehr zu tun; was natürlich bleibt, ist das Bedürfnis nach einer würdigen Trauerfeier. Da müssen die Bestattungsunternehmer sich etwas einfallen lassen. Sie bieten also einen Grabredner genauso als Dienstleistung an wie einen Geistlichen, einen Psychologen oder einen Sänger aus dem Staatsopernchor. Wir Grabredner gestalten und leiten das ganze Begräbnis. In Wien, wo die „schöne Leich“ im gesellschaftlichen Bewußtsein des Bürgertums eine große Rolle spielt, ist der Grabredner natürlich zu Hause.
„Der Vinschger": Von wem erhalten Sie den Auftrag für eine Grabrede?
Pircher: Von der Bestattung Wien selbst bzw. deren Konkurrenzunternehmen. Ich selbst bin völlig frei und unabhängig. Ich teile den Bestattungen mit, wann ich verfügbar bin. Entsprechend werde ich eingeteilt per Fax oder E-Mail; da steht dann oben: 10.10.05, Zentralfriedhof Halle 3, 9 Uhr: Adam Tod.
„Der Vinschger“: Sie halten bis zu 500 Grabreden jährlich?
Pircher: Es gibt Tage, an denen ich im Stundentakt 4 Begräbnisse hintereinander habe.
„Der Vinschger": Wie bereiten Sie Ihre Reden vor?
Pircher: Indem ich den Angehörigen zuhöre. Gespür für menschliches Gewebe ist die Grundvoraussetzung für diese Arbeit. Alles andere ist Auftritt, Mnemotechnik, Klugheit undsoweiter.
"Der Vinschger": Treffen Sie sich vorab mit den Angehörigen?
Pircher: Gewöhnlich sind wir Grabredner eine Dreiviertelstunde vor Begräbnisbeginn am entsprechenden Friedhof. Dort gibt es eigene Räume, in denen wir die Angehörigen, in Wien sagt man „die Kunde“, zu einem kurzen Gespräch erwarten. Da muss man sich dann in möglichst kurzer Zeit ein Bild von dem machen, wer oder was der Verstorbene war und abhören, was die Angehörigen selbst hören wollen. Abhören vor allem, welche Sprache sie sprechen. Denn ohne Sprache keine Gedanken. Da heißt es die Geister zu unterscheiden, abwägen, filtrieren. Die Rede selbst wird dann improvisiert. Ohne Stichwortzettel. Freie Rede ist natürlich selbstverständlich. Das Kurzzeitgedächtnis hat da mitunter Erhebliches zu leisten. Wenn der Kunde es wünscht, treffe ich mich mit ihm an einem unabhängigen Ort, etwa im Kaffehaus, einen oder zwei Tage vor dem Begräbnis. Dies trifft auch bei besonderen Fällen zu. Als zum Beispiel der Elefantenpfleger vom Tiergarten Schönbrunn ums Leben kam, habe ich mich mit seinen Eltern einen Tag vor dem Begräbnis getroffen.
„Der Vinschger": Wie gehen Sie mit den verschiedenen Konfessionen um?
Pircher: Wir Grabredner gestalten zu 99 Prozent konfessionslose Begräbnisse. Das heißt, dass die Verstorbenen keiner Kirche angehören. Also kommt auch kein Geistlicher. Etwa fünf Prozent meiner Kunden legen Wert auf einen christlichen Gedanken, nach dem Motto: Kirche nein, christliche Tradition ja. In säkulariserten, laizistischen Zeiten gibt es natürlich soviel Religionen und Weltanschauungen als es Individuen gibt. So kommt es vor, dass die Tochter der Verstorbenen Buddhistin ist und der Gatte Freimaurer. Da ist natürlich Weltklugheit gefragt. Denn beide wollen sie in der Rede vorkommen. Es gibt nützlichere und weniger nützlichere Redeweisen. Kasuistik. Pragmatismus.Da geht es um die Kunst der Verschlüsselung, der analogen Rede, des bedingt Unausgesprochenen.
„Der Vinschger": Stellen Sie für jeden Verstorbenen eine eigene Rede zusammen oder haben Sie vorgefertigte Ansprachen?
Pircher: Natürlich ist jede Rede anders. Denn nur der Tod als solcher ist das Kontinuum. Der Tote hingegen und der Todesfall als solcher ist immer einmalig und Teil des Lebens Angehöriger. Der Tote und die Angehörigen schreiben also letzten Endes die Rede wie ein „ghostwriter“. Der Bezirksvorsteher ist nicht der Professor für Deutsche Literatur; ein sieben Monate altes Baby nicht der 35jährige Glasermeister, der tödlich verunglückt. Die 19jährige Petra, die mit ihrem Baby aus dem Fenster springt ist nicht der Obdachlose, der erfriert. Außerdem ist eine Rede nur dann gut, wenn der Zuhörer Zeuge ihrer Herstellung im Moment wird. Sogar Stottern, abgerissene Sätze oder jähes Abbrechen kann ein rhetorisches Mittel sein. Freilich muss ein Grabredner über jenes Material verfügen, das ihm erlaubt, souverän die Verdienste eines Pioniers der neuesten Flugzeugtechnik zu würdigen oder aufrichtige Fühlung aufzunehmen mit den Entbehrungen einer vergewaltigten „Trümmerfrau“ im Wien von 1945. Das Wesentliche dabei ist, die Sprachcodes der Toten bzw. Trauergäste absolut zu beherrschen. Ein Dirigent der Staatsoper spricht anders als ein Zuhälter aus Ottakring. Die Reden unterscheiden sich also weniger vom Inhalt her - dieser, könnte man sagen, bleibt immer derselbe: der Tod darf nicht das letzte Wort haben – als vielmehr in Komposition, Stilqualitäten, rhetorischen Figuren, Rhythmus, Tempo, Wortwahl. Die Botschaftung ist die Botschaft. Die Form macht den Inhalt. Für einen Philharmoniker, der Mahler liebte, kann ich zu Metaphern greifen, die in der Rede für den Kriminalbeamten aus dem Betrugsdezernat völlig absurd wären.
„Der Vinschger": Werden am Grab nur gute Worte gesprochen?
Pircher: Wenn zum Beispiel die öffentliche Würdigung des Verstorbenen – eine der Funktionen der Grabrede – aus bestimmten Gründen problematisch erscheint, dann muss man pragmatisch vorgehen und etwa aus einem brauchbaren Gedanken, den zum Beispiel der Enkel des Verstorbenen hat fallen lassen, eine ganze Rede entwickeln usw. „De mortuis nihil nisi bene“ ist freilich jenes eiserne Prinzip, ohne das es die Grabrede als res publica und genus litterarium nicht gäbe. Es ist schon vorgekommen, dass ich den Toten gegen seine Angehörigen verteidigen mußte. Freilich im persönlichen Gespräch vor dem Begräbnis. In einigen seltenen Fällen bin ich auch schon dem Phänomen „Prostitution“ begegnet. Angehörige eines Verstorbenen können mich gegen Geld nicht für eine Grabrede bestellen, in der sie zum Beispiel anwesenden Trauergästen Ohrfeigen austeilen oder alte Rechnungen begleichen. Am Friedhof gibt es viele Extremsituationen.
„Der Vinschger": Erhalten Sie lobende oder auch kritische Rückmeldungen zu Ihren Reden?
Pircher: Da gibt es eigene Formulare (Kundendienst). Das größte Lob lautet meist so: „Als ob der Grabredner meine Lisi gekannt hätte!“ Gerührt bin ich immer, wenn mich im Feedback-Formular zum Beispiel die Witwe eines Verstorbenen als Grabredner für den Fall Ihres Ablebens schriftlich vorbestellt. Solche Vorbestellungen sind nicht selten.
„Der Vinschger": Hat Ihre Arbeit irgendetwas mit Theater zu tun?
Pircher: Natürlich. Mein Theatergebriff ist nicht auf die Emanzipation der Vergnüglichkeit fixiert. Die Theaterwissenschaftler wissen ja meist nicht mehr zu berichten, als dass das Theater aus dem Kult hervorgegangen sei. Ich schreibe gerade ein Buch zum Thema „Ritual und Theater“. Die These dieses Buches zielt darauf, dass Kult, Liturgie, rituelles Handeln eminentes Theater ist. Insofern das Bestatten der Toten ohne Ritus nicht auskommt, der Kult, Rituale (der Lebenswenden: Geburt/Sexualität/Tod) das erste Theater und zugleich das erste Fest der Menschheit sind, ist jedes Leichenbegängnis eminentes Theater. Ein Theater freilich, das uns noch nicht aufgespalten hat zum Trottel der Pflicht und dem des Vergüngens. Das ist eine bürgerliche Erfindung des 19. Jahrhunderts. Theater als moralische Anstalt oder solche der Unterhaltung.
„Der Vinschger": Wieviel kostet eine Grabrede?
Pircher: Wenn verlangt ist, dass die ganze Begräbnisgesellschaft weinen können soll, dann 1000 Euro. Ansonsten ist eine Grabrede unbezahlbar.
„Der Vinschger": Welche Rede werden Sie nie vergessen?
Pircher: Als mich nach einem Begräbnis mit ORF und mehreren anwesenden Promi-Politikern ein österreichischer Minister zuhause anrief, um mich als Konsultor und Redenschreiber in seinen Dienst zu holen. Er hat geglaubt, dass ich nicht nein sagen könne, wenn er mich persönlich anruft. Ich habe ihm gesagt, dass das nichts für mich sei. Daraufhin hat er mich ins Café Landtmann eingeladen, um mich falscher Bescheidenheit zu überführen. Ich habe mich für die Komplimente bedankt und abgelehnt. Die Identifikation mit den Toten ist ein Glück, die Identifikation mit Politikern ein Unglück - für mich.
„Der Vinschger": Wie lange wollen Sie Ihre Tätigkeit als Grabredner ausüben bzw. welche Ziele haben Sie für die Zukunft?
Pircher: Die Grabrednerei ist für mich kein Job. Der Friedhof, der Humor, den die Toten lehren, ist für mich ein großer Trost in unserem stinklangweiligen global village. Ich werde wohl immer ein bißchen Theater machen. Tschechow spielen. Jedenfalls aber wünsche ich mir, dass ich so lange Tote begraben kann, bis man mich selbst zu Grabe trägt. Mein Begräbnis ist bereits vorbereitet. Keine Grabrede. Kein deutsches Wort. Der römische Ritus und zum Trauermarsch die litaneihafte Verlesung der Namen aller Toten, die ich begraben habe. Für den Fall, dass es Zehntausende werden sollten, habe ich angeordnet, dass entsprechend viele Freunde die Litanei der Namen „meiner“ Toten in entsprechendem Tempo rezitieren sollen. Die Namen der Toten, die ich begrabe, schreibe ich immer in ein eigenes großes Buch. Dieses Buch beginnt übrigens mit folgenden Worten aus der Goswin-Chronik (Marienberg): Animas pauperum tuorum ne obliviscaris in finem... Der letzte Name, der in dieses große Buch kommt, soll mein eigener sein. Das sind dann meine Memoiren. Nichts als Namen. Die Toten lassen einen nie allein.
Interview: Josef Laner
Josef Laner