Maria kurz nach ihrem 99. Geburtstag in ihrem neuen Zuhause in Latsch.

Inzwischen dem Seniorenclub entwachsen

Publiziert in 40 / 2008 - Erschienen am 12. November 2008
Tarsch/Latsch – Maria ­Theresia Rechenmacher war zehn Jahre lang Untertänin zuerst Kaiser Franz Josefs I. und dann Kaiser Karls und ­wurde erst mit 12 eine „Walsche“. Dass sie ihren 99. Geburtstag (7. Oktober) beim Törggelen und Tanzen in Ulten feiern würde, hätte die älteste ­Tochter des Schneider-Tonl Bauers in Tarsch nie gedacht. Heute ist das Geburtshaus der Maria als „Steinhof“ eingetragen und wird von einem Sohn ihres jüngsten Bruders Hans bewirtschaftet. Nach der Maria brachte ihre Mutter Theresia noch Martl, Heinl, Sepp, Hermann, Karl, Hans und Schwester Anna zur Welt. Anna, die jüngste ist inzwischen auch 87. Zusammen mit der um 12 Jahre älteren Maria hat sie in Latsch eine Altenwohnung bezogen. Von den acht Kindern auf dem „Steinhof“ sind fünf Brüder inzwischen gestorben. Maria hat acht Winter – sie sagte nicht Jahre - die Volksschule besucht. 1916 begann für sie die Schulzeit, zuerst beim Lehrer Grüner, dem Vater des in Latsch bekannten Kaminkehrers Grüner Toni. Danach sei ein gewisser Noggler aus dem Oberland gekommen. Richtig begonnen habe die Schule aber erst mit dem Lehrer Federspiel. „Ein gueter und strenger Lehrer. Tafel, Griffel, Schwamm…“ Es klang wie ein sich reimender Merksatz, aber Maria lächelte und vollendete ihn nicht. Fünf Jahre habe sie mit dem gestrengen Herrn Lehrer zugebracht. Im letzten Schulwinter 1924 hätten sie Hefte bekommen, deren Seiten geteilt waren in einem italienischen Text links und einem deutschen rechts. Schwarzhemden habe sie in Tarsch nie gesehen. Einmal sei ein „walscher Direktor“ gekommen: „Der wollte uns ‚Fratelli d’Italia‘ singen machen. Lehrer Federspiel hat hinter ihm nur den Kopf geschüttelt und gelacht.“ Das sei ihm bald darauf aber vergangen. Josef Federspiel wurde aus dem Schuldienst entlassen und zwei „walsche Lehrerinnen“ seien gekommen. „Das waren anständige Weiberleit, die im obersten Stock des Schulhauses gewohnt haben“. Eingeprägt geblieben sind der Maria die strengen Maßnahmen von Lehrer Federspiel. Einmal sollen „Knoschpen“ tragende Buben eine Mauer­ecke beschädigt haben. Da sich die Schuldigen nicht meldeten, mussten alle Dritt- und Viertklässler den Satz „Kein Lüge ist so fein gesponnen, dass sie nicht doch kommt an die Sonnen“ 50 Mal schreiben, die älteren Schüler kamen auf 100 Mal. Maria erinnert sich, wie der Pohlen Martl ein Lesestück zehn Mal abschreiben musste, weil er statt Bischofshofen ­Bischofen gelesen hatte. „Jeden Tag haben wir Rechenaufgaben bekommen. Vor jedem Sonn- oder Feiertag wurde den Älteren ein Gedicht aufgegeben“. Schon zitierte Maria Rechenmacher „Hoch klingt das Lied vom braven Mann, wie Orgelton und Glockenklang. Wer hohes Muts sich rühmen kann….“ Sie musste die 16 Strophen von Gottfried August Bürger über Weihnachten auswendig lernen. Auch die ­„Feuersbrunst“ fiel ihr ein und dann kam Ludwig Uhlands „Als Kaiser Rotbart lobesam“ dran. „Alle Gedichte standen im 3. Lesebuch. Es ruit mi, dass ich es nicht aufderhebt habe“. Vom 1. Weltkrieg weiß Maria nur mehr, dass Vater Heinrich auf dem Stilfserjoch Dienst geleistet habe und bei der Taufe seines jüngsten Sohnes auf Urlaub kommen durfte. Damals hätten sie eine junge „Kinds­diarn“ gehabt, auch ein „gefangener Russ“ habe auf ihrem Hof gearbeitet. Nach der Schule wurde sie zu Hause die „Groaß-Diarn“; sie war 14. Während der Schwangerschaften von Mama ­Theresia haben Vater Heinrich, ein Knecht und Maria die Arbeit im Haushalt, auf dem Feld und im Stall verrichtet. Mit 26 verließ Maria erstmals Tarsch und verdingte sich in einem „noblen Haus“. Einige Monate war sie Aushilfshäuserin am Obergoidenhof in Marling. Danach hat sie am Niedermoarhof in Tschirland acht Jahre lang den Haushalt ihrer Patin Anna, geborene Rechenmacher und verheiratete Tanzer, geführt. Noch in den letzten Kriegstagen war Karl Tanzer, ihr Vetter, gefallen. Damit stand die Touta ganz allein da; ihr Mann, Karl Tanzer Senior, war bereits aus dem Ersten Krieg nicht mehr zurückgekehrt. Den Hof sollte ihr Bruder Sepp bekommen, der aber im Dorf wohnte und nur zur Arbeit auf den Hof kam. Die Patin hat ihr bei der Arbeit niemals dreingeredet. Immerhin standen 50 Stück Vieh auf dem Hof. Marias Schwester Anna hatte als 20jährige in Mailand einen „Posten“ gefunden, gegen den Willen der Eltern. Später sei sie nach Meran übersiedelt und habe 20 Jahre dort gewohnt. Bis zur Hochzeit ihres Bruders Hans arbeitete Maria auf dem heimatlichen Hof. Nach den acht Jahren am Nieder­moar-Hof sei sie zu einer reichen Algunder Familie gekommen. Eigentlich waren es vier ledige Geschwister, drei Brüder und eine Schwester, die nicht nur eine große Metzgerei, sondern auch zwei Gasthäuser betrieben. Fünf Jahre ist Maria dort geblieben, hat gekocht, geputzt, gewaschen und acht Fremdenzimmer betreut. Neben ihr gab es zwei Knechte und einen Fütterer. Inzwischen hatte Schwester Anna, die in Meran arbeitete, in Latsch eine Wohnung bezogen. Maria quartierte sich bei ihr ein, auch, weil ihre Beine nicht mehr so gut mitmachten. Trotzdem habe sie die folgenden sieben Sommer auf einer Alm in Schenna gekocht. Ein älteren Mann habe dort bis zu 15 Kinder seiner Verwandten aufgenommen. An den Namen der Alm erinnert sich Maria nicht mehr, aber den alten Mann hätten sie in Schenna den Wolchen-Sepp geheißen. „Es war eine schöne Zeit auf der Alm.“ Sie war 65, als sie sich endgültig in Latsch niederließ. Doch untätig ist sie nie geblieben. Noch mit 95 habe sie alle zwei Wochen den Haushalt einer Latscher Familie versorgt. „Gottseidank, gsund bin i ollm gwesn.“ Als schönste Zeit würde sie heute die Jugendzeit zu ­Hause bezeichnen, obwohl „ummadum die Noat“ war. Am traurigsten war für sie der Abschied von ihrem Bruder Karl, der 1941 ins Feld rücken musste und der schon bei den „Walschen“ gedient hatte. Sie habe ihn damals zum Bahnhof begleitet. Unter den vielen Menschen stand dort auch die Frau Weitgruber, die den Satz von sich gab: „Die armen Buben, die kommen nimmer!“ Der „Nazi Griesmair“, der den Spruch gehört hatte, habe die Weitgruberin drohend angefaucht. Bruder Karl sei schweigsam und nachdenklich nach seiner Schwester Maria schauend in den Zug gestiegen. Sie habe geglaubt, es breche ihr das Herz, als sie die Nachricht von seinem Tod hörte. Es war im April 1942; Karl war der zweite Gefallene aus Tarsch. Der „Raminiger Peater“ habe den Brief über seine Tochter an Marias Schwester Anna übergeben. Zu Hause seien alle in Tränen ausgebrochen. Bei Kämpfen auf der Krim war dem Karl die Lunge durchschossen worden. Nach drei Wochen im Lazarett von Simferopol sei er dann gestorben. Was war ihre Lieblingsbeschäftigung? Was hat sie am liebsten getan? Den Ausdruck Hobby hat es damals nicht gegeben. Sie habe alles angepackt, alles, was anstand. Mit 16 hat die Maria das Vieh versorgt und die sechs Kühe gemolken; sie war im Getreidefeld, hat Heufuder geladen und im Winter mit der „Drischel“ gedroschen. „Beim Kornschnitt hab ich auf dem Niedermoar-Hof für 48 Leit gekocht. Dort waren immer drei Dienstboten, zwei Knechte und eben auch Tagwerker beschäftigt. Dabei habe ich mir Arme und Beine abgearbeitet. Einmal bin ich auf der Treppe gestürzt und habe mir den Arm ge­brochen. Mit der Operation des Grauen Stars vor 21 Jahren und der Gürtelrose vor sieben Jahren war ich insgesamt drei Mal im Krankenhaus. Innerlich bin ich aber gsund“. Heute, mit 99, fühlt sie sich dem Seniorenclub entwachsen. „Die sind alle um einen Haufen jünger“. Für sich und ihre Schwester führt sie jetzt den Haushalt, liest gern, häkelt, geht ab und zu einen Kaffee trinken und macht auch Ausflüge, trotz der knappen Kasse mit der Mindestrente. Den Ausflug nach Ulten hatte sie ihrer Schwester Anna zu verdanken, die seit der Mailänder Zeit Mitglied des AGB-CGIL ist. Günther Schöpf
Günther Schöpf
Günther Schöpf

Diese Seite verwendet Cookies für funktionale und analytische Zwecke. Lesen Sie unsere Cookie-Richtlinien für weitere Informationen. Durch die Nutzung dieser Website erklären Sie sich damit einverstanden.