Coronavirus trifft die „Krone der Schöpfung“

Coronavirus trifft die „Krone der Schöpfung“

Erzwungen durch den Fast-Stillstand des öffentlichen Lebens, losgelöst von Terminen und Verpflichtungen, zurückgeführt in die eigenen vier Wände erfährt der Mensch dieser Tage eindrücklich, was es bedeutet, von einem aggressiven und bisher unbekannten Virus allgegenwärtig bedroht zu werden.

- Die Medien und sozialen Netzwerke schwanken zwischen dem aufrichtigen Versuch, allein die Faktenlage wiederzugeben und Menschen eindringlich zum richtigen Verhalten in dieser Krisenlage zu bewegen und der Panikmache mit der Verbreitung von Hiobsbotschaften oder Verschwörungstheorien. Die Krise betrifft inzwischen mehr oder weniger stark die ganze Welt und es wird an Pandemie-Szenarien wie die Spanischen Grippe am Ende des 1. WK, die SARS-Pandemie 2002/03 oder die Schweinegrippe 2009/10 erinnert. Warum entstand diese Pandemie? Darüber geben uns Virologen und Immunologen wissenschaftlich gesicherte Auskunft. Aber Krisen kündigen sich manchmal durch verschiedene Vorzeichen an und werden durch einen oft nicht genau definierbaren Auslöser entfacht. Auch Südtirol steht im Banne des Corona-Virus und die plötzlich reich vorhandene Zeit gibt wohl so manchem Menschen auch hier die Möglichkeit, sein Leben bewusster unter die Lupe zu nehmen, zu erkennen, was ihm abgeht oder eben auch nicht, was ihm wirklich wichtig ist oder jetzt bei genauer Betrachtung nichtig und überflüssig erscheint. Wie oft hört man dieser Tage aus unterschiedlichstem Munde: Es musste einmal eine Bremse für unsere Hast, unser überhitztes Wirtschaften, unsere Gier nach Mehr kommen. Wir Heimatpfleger/innen sprechen diese Entwicklungen und die Grenze der Belastbarkeit schon seit Jahren an und warnen vor der teilweise aggressiven Wirtschaftsweise, auch in unserem Land, vor dem grenzenlosen Wachstum in verschiedenen Wirtschaftsbereichen mit all den negativen Begleiterscheinungen wie überbordender Verkehr, überdurchschnittlicher Verbrauch von Ressourcen, überstrapazierte Landschaft. Aber auch über die Maßlosigkeit im Beanspruchen von Grund und Boden, über die Respektlosigkeit im Umgang mit unseren tradierten Kulturgütern, über das zunehmende Fehlen von Solidarität gegenüber Menschen, die nicht „mithalten“ können oder von außen zu uns kommen, um vor Verfolgung, wirtschaftlicher Not und Umweltkatastrophen zu fliehen. Die Corona-Krise trifft, um es biblisch auszudrücken, die „Krone der Schöpfung“, also den Menschen, nicht die Natur, nicht die Pflanzen und Tiere. Im Gegenteil: Man erkennt, wie sehr die Natur dieser Tage wieder aufatmet, nicht nur weil sie – wie ein Wunder – jedes Frühjahr neu erwacht; nein, weil plötzlich die Luft wegen des stark reduzierten Verkehrs wieder reiner ist, weil der Straßenlärm verschwunden ist und man plötzlich die Vögel ganz laut singen hört, weil am Himmel die Kondensstreifen der Flugzeuge fehlen, weil der Konsum bis auf das Notwendige reduziert wird und nicht die Shoppingtour mit der Familie auf dem Programm steht.  Plötzlich finden Familien zu Hause wieder Zeit füreinander, sie reden, diskutieren, spielen, musizieren miteinander. Plötzlich finden Menschen wieder die Zeit, ihren Hobbys zu frönen, Plötzlich erinnern sich Menschen an andere, mit denen sie schon so lange nicht mehr gesprochen haben und setzen sich mit ihnen in Kontakt. Plötzlich entsteht eine Solidargemeinschaft im Kampf gegen das Virus. Plötzlich erkennen viele, dass das Leben endlich ist und man nicht für die nächsten fünf Generationen schaffen und schuften muss. Plötzlich merken wir, welche Menschen uns wirklich abgehen, weil wir sie jetzt physisch nicht treffen können. Und plötzlich merken wir genau, wer und was uns sprichwörtlich „gestohlen bleiben“ kann. Jede Krise birgt auch eine Chance in sich – diese Binsenweisheit bewahrheitet sich auch jetzt. Einen aus der Not erforderlich gewordenen Digitalisierungsschub hat man innerhalb weniger Tage beispielsweise im Bildungssystem erreicht. Eine neue Wertschätzung zeigt sich gegenüber Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten und in dieser Zeit weit über das normale Maß hinaus sich einsetzen und für uns alle ein hohes Risiko eingehen. Betriebe stellen spontan auf rar gewordene Güter wie Desinfektionsmittel und Mundschutzmasken um. Und nicht zuletzt: alle europäischen Länder werden heuer aufgrund der Corona-Krise ihre Klimaziele erreichen. Was wird sich nach Corona ändern? Wird die Überwindung einer absehbaren schweren Wirtschaftskrise auch politische Priorität haben, nach dem Motto: so schnell wie möglich wieder zurück auf das Niveau vor der Corona-Krise und dabei sind alle Mittel recht? Oder wird man ein Maßhalten nicht als Mangel, sondern als Chance für eine andauernde Systemänderung betrachten, eine Art „Deglobalisierung“ mit neuer Wertschätzung gegenüber der überschaubaren Kleinstrukturiertheit von Betrieben und einheimischen, regional und gesund erzeugten Produkten?
Wird die menschliche Gemeinschaft sich Werten wie Solidarität, Ehrlichkeit, Nachhaltigkeit verpflichten?
Man erinnert sich dieser Tage gerne eines einheimischen großen Vordenkers: Alexander Langer, der einen Gegenentwurf zum „citius-altius-fortius (schneller, höher, stärker) durch ein „lentiusprofundius-suavius“ (langsamer, tiefer, lieblicher) für unsere Gesellschaft propagiert hat. Unsere Sehnsucht nach der Zeit nach Corona bietet die Gelegenheit, diesen Paradigmenwechsel zu vollziehen. Die Zukunft der Menschen und der Natur in unserem Lande hängt vor allem vom verantwortlichen Handeln von uns selbst ab. Nutzen wir diese einmalige Chance!

Claudia Plaikner, Obfrau des Heimatpflegeverbandes Südtirol

Olang, am Frühlingsanfang 2020
Welche positiven Erkenntnisse ziehen Sie ganz persönlich aus dem Fast-Stillstand des öffentlichen Lebens und der erzwungenen Auszeit? Welche Chancen sehen Sie in der Coronavirus-Krise? Diskutieren Sie mit uns auf der Facebook-Seite des Heimatpflegeverbandes: https://www.facebook.com/HPV.Suedtirol/

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