Im Bild von links nach rechts: Gäste und Referenten Hannes Mussak, Präsident Rotes Kreuz Südtirol, Roger Pycha, Primar Psychiatrie Krankenhaus Bruneck, Antonio Piotti, Psychotherapeut/Referent, Ulrich Seitz, EOS Genossenschaft, Federico Fava, Rechtsanwalt aus Bozen, Sabine Cagol, Psychologin EOS

Internet und psychische Krisen

Einem hoch aktuellen Thema widmete sich die Europäische Allianz gegen Depression am Donnerstag, den 5. April im Haus EOS in Rentsch. Geladen war der Psychoanalytiker und Forscher Antonio Piotti vom Centro Minotauro Mailand, der über den Einfluss des Internet auf die Entstehung von psychischen Krisen und Krankheiten referierte.

- Einleitend stellte der Koordinator der Initiative in Südtirol, Ulrich Seitz, die neuen Notfallkärtchen vor, die zur Suizidverhütung in handlicher Form die Kontakte der Telefonseelsorge, von telefono amico und young and direct enthalten. Im Format von Visitenkarten können diese oft lebensrettenden Informationen unauffällig an professionelle Helfer, Freiwillige und vor allem an Menschen in Krisen weiter gegeben werden. Es handelt sich um das Auftaktprojekt der Allianz 2018, die sich unter der Ägide von EOS seit 2016 wieder verstärkt der Suizidprävention zuwendet, wie der Koordinator betonte.
In der Einführung stellte Psychiatrieprimar Roger Pycha Bezüge zur europäischen Gesundheitspolitik her, beschrieb die Depression als die Herausforderung des 21. Jahrhunderts, weil Vorbeugungsstrategien nur sehr beschränkt zur Verfügung stehen, und unterstrich die beiden Bereiche, in denen die Europäische Allianz gegen Depression gezielt tätig sein will: Die Verhütung lebensgefährlicher Krisen und die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz. In beiden Fällen sind moderne Kommunikationsmittel wie Smartphone und soziale Netzwerke inzwischen unabdingbare Hilfsmittel.
Professor Piotti führte im Detail in das Lebensgefühl der Generation ein, deren basales Instrument das Smartphone ist, und die „I generation (von i-phone)“ genannt wird. Die heute 15 bis 18 Jährigen kennen keine Welt ohne soziale Netzwerke und hantieren mit überhallhin transportierbaren Verbindungen, die nicht mehr an den PC gebunden sind. Sie erleben damit die Fortsetzung dessen, was Marshall Mcluhan bereits 1964 beschrieben hat, nämlich die Rückwirkung des Werkzeugs auf den Nutzer. Im Mittealter wurde vor allem über Bilder, bevorzugt gemalte Fresken, gelehrt, die diffuse Gefühle im Betrachter hervorriefen. Mit dem Aufkommen des Buchdruckes verschob sich Lehre und Argumentation in Richtung von geschriebenen und gelesenen Geschichten, die einen logischen roten Faden aufweisen mussten. Der Buchdruck drängte die Menschheit zu Aufklärung und Rationalismus, zeitliche Abfolge und Kausalität wurden die wichtigsten Argumentationsfelder. Heute verändern die vielen, beschleunigten, fast gleichzeitigen Bilder den Erlebnisstrang, drängen ihn weg von einer linearen Logik und hin zu einer produktiven gelockerten Vorstellungswelt, die der freien Assoziation entspricht. Viele Bilder und Einfälle gruppieren sich um ein Thema und haben nur mehr teilweise mit ihm zu tun. Die neu entstehende Erlebnisweise ist kein Realitätsverlust, sondern die Schaffung einer eigenen Welt mit neuen Gesetzen: mit mehr Freiheit, aber zum Beispiel auch größerer Gewaltbereitschaft.
Die I – Generation scheint eine Minusvariante darzustellen. Sie ist weniger an Politik interessiert, weniger an sozialen Beziehungen, Sexualität, der Erlangung des Führerscheins, aber auch weniger an Drogen, Gewalt, Rassismus. Betroffene verbringen weitaus mehr Zeit mit ihrem Smartphone, ihre soziale Kontaktentwicklung scheint im Durchschnitt um 3 Jahre langsamer zu erfolgen, 18Jährige haben das soziale Netz von 15Jährigen, sind dafür auch viel individualisierter, das heißt, sie hängen eigenen Interessen deutlicher nach. Die Kontakte zu Autoritäten scheinen gelockert, die Kontakte zu Gleichaltrigen mit ähnlichen Interessen sind intensiviert – es ist, als werde der Familienverband umgebaut, als träten verschiedene konkurrierende Geschwister an die Stelle der Väter.
Für Menschen, die sozial kontaktscheu sind, ängstlich in die Zukunft blicken oder die Überprüfung an der Wirklichkeit scheuen, ist die virtuelle Neulandschaft hilfreich, denn sie vermittelt Schutz. Der Psychologe Tamaki Saito hat das Phänomen in Japan häufig bei männlichen Jugendlichen beschrieben, die sich dem strikten Arbeitsethos der älteren Generation nicht aussetzen möchten, weil sie glauben, daran zu zerbrechen. Sie ziehen sich in ihr Zimmer zurück, verlassen es praktisch nicht mehr, überspringen Mahlzeiten, pflegen Kontakte häufig nachts am Computer, sind untertags schläfrig im Bett, widmen sich dem Chatten, virtuellen Spielen, der Pornografie oder dem Einkaufen im Netz. Sie führen ein bleiches Ersatzleben, in dem sie die komplette Kontrolle über die Situation haben. Ablenkungen im Netz führen ins Uferlose, aber vor allem weit weg von Alltagsängsten. So Beeinträchtigte nennt er Hikikomori, „Zurückgezogene“, die Jahre Entwicklungsverzögerung in Kauf nehmen. Diese neue Störung scheint, bei genauerem Hinsehen, in allen postindustrialisierten Ländern verbreitet, über die Häufigkeit ist man sich noch uneins.
Wie Piotti weiter ausführte, ist es erstaunlich, dass ein Leben im Netz faszinierender sein kann als die Realität. Ihm zufolge liegt das daran, dass Internet ohne Zensur extrem angenehme, aber auch extrem schlimme Erlebnisse produziert und Vorsichtsmaßnahmen außer Kraft setzt. Paradoxerweise glauben Nutzer dass am Ort der Welt, der am schärfsten beobachtet wird, auch die größte Freiheit wohnt, so als seien alle gesellschaftlichen Regeln und Gebote aufgehoben. Transgressives Verhalten wie Drogenrausch, Nacktdarstellungen, Quälereri und Tötung von Lebenwesen, Hasstiraden und politische Verfolgung werden bildlich dokumentiert und ins Netz gestellt, als könnte es nie entdeckt werden. Da man oft nicht zwischen fake und reality unterscheiden kann, führt die Atmosphäre des Internet zu einer gewissen Abgebrühtheit, zu ethischer Gleichgültigkeit. Dann nimmt man Darstellungen von Suiziden gelassen, kommentiert „sie wollten wohl sterben“ und wendet sich unbeteiligt ab.
Die virtuelle Dimension dieser vielseitigen Wunderwelt bedient den Narzissmus: Dem Einzelnen ist praktisch jedes Erlebnis möglich, ohne dass er je dafür Verantwortung übernehmen oder bezahlen müsste. Er kann einzigartig sein in der Ausstülpung seiner Wünsche und Triebe, sie werden nicht beengt.
Demgegenüber ist die Realität ein enges, manchmal schmerzhaftes Korsett. Die Enttäuschung darüber kann Erschöpfung und Missbehagen erzeugen, kann zu Depression werden. Laut Piotti ist es deshalb kein Wunder, dass depressive Erkrankungen im Zentrum der Aufmerksamkeit von Betroffenen und Helfern stehen. Sie entsprechen den Spannungen des Zeitgeistes am genauesten.

Südtiroler Sanitätsbetrieb

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