Victor Perli

Ein „Malser“ im Bundestag

Publiziert in 40 / 2017 - Erschienen am 22. November 2017

Berlin/Mals - Mit dem 35-jährigen Victor Perli aus Wolfenbüttel sitzt seit heuer ein „Malser“ im Deutschen Bundestag. Perlis Onkel Patrizio lebt in Mals. Seit Vater ist in Mals aufgewachsen und betreibt heute eine Pizzeria in Quedlinburg in Deutschland. Victor Perli ist Politikwissenschaftler und Geschäftsführer in einem Familienbetrieb. Während des Studiums arbeitete er für die damalige Europaabgeordnete Sahra Wagenknecht. Perli engagiert sich seit 2001 bei der Partei DIE LINKE und ist Mitglied verschiedener politischer Institutionen. Heuer wurde er in den Deutschen Bundestag gewählt. 

der Vinschger: In ihrem Wahlkampf haben Sie betont, dass Sie deshalb für DIE LINKE kandidieren, weil sie die einzige Partei ist, die den Konflikt mit den Mächtigen sucht. Wer sind die Mächtigen?

Victor Perli: Die Demokratie geht von gleichen Rechten für alle Menschen aus. Seit einigen Jahrzehnten konzentriert sich aber immer mehr Macht und Reichtum bei einer kleinen Minderheit. Die acht reichsten Menschen der Welt besitzen so viel wie 3,5 Milliarden Menschen, 36 reiche Deutsche so viel wie die Hälfte der Bevölkerung. Die neoliberale Politik hat die Demokratie den Interessen der Finanzmärkte untergeordnet. Kanzlerin Merkel nennt diesen Zustand „marktkonforme Demokratie“. Die Folgen sind verheerend: Globale Konflikte um Ressourcen und den Klimaschutz führen zu Aufrüstung und neuen Kriegen, die soziale Spaltung nimmt zu, bis tief in die Mittelschichten wächst die Angst vor dem Abstieg, rechte und demokratiefeindliche Bewegungen haben Konjunktur. Nur die Linke legt sich in Europa mit den Superreichen und Eliten an, die für diese Entwicklung verantwortlich sind und mit exorbitantem Reichtum profitieren. 

Der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer hat einmal gesagt, dass die, welche gewählt sind, nichts entscheiden und die, welche entscheiden, nicht gewählt sind. Wie sehen Sie da Ihre Position?

Also hat Seehofer als Ministerpräsident nichts zu entscheiden? Mit solchen Aussagen lenkt er davon ab, dass es die politischen Eliten waren, insbesondere die Konservativen und Sozialdemokraten, die überall in Europa die Macht der Parlamente geschwächt und die Finanzmärkte und transnationalen Konzerne der öffentlichen Kontrolle entzogen haben. Jede Bäckerei in Südtirol, Rom oder Berlin hat einen höheren Steuersatz als Konzerne wie Amazon, Apple oder Google in Europa – das ist ein Skandal. Ich setze mich dafür ein, dass die Demokratie gestärkt wird, es mehr Bürgerbeteiligung und Volksabstimmungen gibt und die Parlamente sich nicht mehr den Interessen des großen Geldes unterordnen.  

Wie würden Sie die derzeitige politische Situation in Deutschland beschreiben?

Deutschland steht zwar wirtschaftlich gut da, aber die Mehrheit profitiert davon nicht. Wir haben einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa, wachsende Altersarmut und viele Probleme im Gesundheits- und Pflegesystem. Die politische Stimmung hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Ein großes Problem ist, dass es keine echte Alternative zu Kanzlerin Merkel gibt. Zum dritten Mal in Folge ist ihr Regierungsbündnis bei einer Bundestagswahl abgewählt worden, sie kann aber mit neuen Partnern weitermachen. Mit Ausnahme der Linken vertreten alle Parteien eine Politik des Sozialabbaus. Im letzten Bundestag gab es zwar eine Mehrheit für die Parteien links von CDU/CSU, die SPD hatte sich aber gegen einen sozialen Politikwechsel entschieden und für ein neoliberales „Weiterso“ in der Rolle als Junior-Partner von Merkel. Das Ergebnis ist das historisch schlechteste Ergebnis für die SPD bei einer Bundestagswahl. 

Derzeit werden Wahlen hauptsächlich über die Flüchtlingsproblematik gewonnen. Welche Lösungen haben Sie im Gegensatz zur AfD?

Die AfD bietet gar keine Lösung an. Sie will Mauern hochziehen, um die globalen Probleme besser ignorieren zu können. Die Fluchtbewegungen sind im Wesentlichen ein Ergebnis der NATO-Kriegspolitik der NATO-Staaten und einer zunehmend ungerechten Weltwirtschaftsordnung. Deutschland gehört zu den größten Waffenexporteuren der Welt und ist an mehreren Kriegen beteiligt. So werden neue Fluchtursachen geschaffen. Wir fordern den sofortigen Stopp von Waffenexporten, insbesondere von jenen in Krisenregionen. Für die zivile Konfliktlösung braucht es eine starke, demokratische UNO. Außerdem braucht Afrikas Wirtschaft Schutz vor Billigprodukten aus dem Norden, die den heimischen Bauern und Arbeitern ihre Existenzgrundlage nehmen. In Deutschland haben wir mit 500.000 Menschen gegen die sogenannten Freihandelsabkommen TTIP, CETA und TiSA demonstriert, die die Handelsrechte der großen Konzerne durchsetzen sollen. Das war sehr ermutigend.

Haben DIE LINKE und die AfD nicht auch gemeinsame Anliegen?

Die AfD ist im Kern eine unsoziale, neoliberale und rassistische Partei, die sich gegen Schwächere richtet. Sie lehnt höhere Löhne und eine Stärkung der gesetzlichen Rente genauso ab wie höhere Steuern für Multimillionäre. Sie will neue Atomkraftwerke und das Frauenbild der 1950er anstatt Klimaschutz und Gleichberechtigung. Mit diesen Zielen und mit diesen Vertretern haben wir nichts gemeinsam.

Persönlich haben Sie einen sehr erfolgreichen Wahlkampf geführt. Warum gelingt es DER LINKEN nicht, mehr Wähler zu mobilisieren?

Wir haben bei der Bundestagswahl unser zweitbestes Ergebnis erzielt. Aber wir haben natürlich den Anspruch noch deutlich stärker zu werden. Linke Politik ist erfolgreich, wenn es ihr gelingt, eine glaubwürdige Hoffnung auf positive Veränderungen zu wecken und wenn es eine entsprechende Bewegung in der Gesellschaft gibt. Ein gutes Beispiel dafür ist die große Unterstützung für Bernie Sanders in den USA, der als Präsidentschaftskandidat gegen Trump sicher mehr Chancen gehabt hätte als Hillary Clinton. 

Sie wollen soziale Sicherheit für alle. Wie wollen Sie das anstellen?

Unsere Gesellschaft wird einerseits immer reicher, andererseits wird der Reichtum immer ungerechter verteilt. Deshalb geht es erstens um Steuergerechtigkeit. Wir wollen die Arbeiter- und Mittelschichten entlasten, Konzerne und Superreiche stärker besteuern. Zweitens muss die Politik Armut bekämpfen. In Deutschland wächst jedes fünfte Kind in armen Verhältnissen auf und ab 2030 droht jedem dritten Rentner Altersarmut. Und drittens werden die internationalen Konflikte weiter anwachsen, wenn wir uns nicht um globale Gerechtigkeit und Klimaschutz kümmern. 

Glauben Sie, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen ein gangbarer Weg zu sozialer Gerechtigkeit sein kann?

Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine spannende Idee, die von vielen Menschen diskutiert wird. Ich bin aber sehr skeptisch, was die Umsetzbarkeit angeht. Warum sollen auch Millionäre ein Grundeinkommen bekommen? Es gibt Grundeinkommen-Modelle, die zur Finanzierung die Abschaffung des Sozialstaats und eine extrem hohe Mehrwertsteuer vorsehen. Das führt dann zum Beispiel dazu, dass Kranke sich nicht mehr auf ihre Krankenversicherung verlassen können. Das ist ganz sicher kein sozial gerechtes Modell. 

Es gibt hartnäckige Versuche das Bargeld abzuschaffen. Wie sehen Sie diese Bemühungen und welche Gefahren sehen Sie im Falle der Abschaffung?

Ich lehne die Abschaffung des Bargeldes ab, weil es ein weiterer Schritt auf dem Weg zum gläsernen Menschen wäre. Die meisten wollen nicht, dass immer nachvollzogen werden kann, wo sie wann wieviel Geld ausgegeben haben.

Welche Chancen geben Sie dem weiteren Bestand der EU und des Euro?

Die großen Probleme unserer Zeit können nicht im nationalstaatlichen Rahmen gelöst werden. Die EU muss sich aber ändern, um zu bleiben. Bislang ist sie vor allem eine Wirtschaftsunion, in der soziale, demokratische und ökologische Standards oft das Nachsehen haben. Das Ergebnis ist eine zunehmende soziale und wirtschaftliche Spaltung Europas, die auf Dauer den Frieden und die Stabilität auf dem Kontinent bedroht. Nötig sind unter anderem Sozialstandards und eine Angleichung der Unternehmenssteuern, damit der Dumping-Wettlauf nach unten ein Ende hat und die Konzerne die Länder nicht mehr gegeneinander ausspielen. Außerdem ist eine Demokratisierung der EU überfällig. 

Sind die GRÜNEN in Deutschland überhaupt noch in der Lage, ihre Themen verständlich zu machen?

In der Tat wissen viele Menschen in Deutschland nicht, für welche Ziele die Grünen überhaupt noch stehen. Die einstige Partei aus der Umweltbewegung fühlt sich heute in Koalitionen mit der CDU wohl. Einen großen Gesellschaftsentwurf haben sie nicht mehr. Mal sehen, ob sie als Teil der künftigen Mitte-Rechts-Bundesregierung überleben.

Sie haben ein Buch über die Problematik des Atommülls geschrieben. Glauben Sie, dass dieses Problem demokratisch überhaupt noch lösbar ist oder müssen wir und die kommenden Generationen eine Million Jahre mit diesem Giftmüll leben?

Unsere Generation hat die Verantwortung dafür zu sorgen, dass das Problem für die künftigen Generationen nicht größer und gefährlicher wird. In Deutschland hat man in den letzten Jahrzehnten versucht, die radioaktiven Abfälle in willkürlich ausgewählten, instabilen Bergwerken zu vergraben und mit Knüppeln gegen jede Form des Bürgerprotestes vorzugehen. Dieser Weg ist gescheitert, weil die Anti-Atomkraft-Bewegung nicht nachgelassen hat, auf eine demokratische und sichere Lösung zu drängen. Jetzt gibt es einen Neustart der Endlagersuche und ich setze mich dabei für eine wirksame Bürgerbeteiligung und stärkere wissenschaftliche Forschung ein. 

Was ist an der SPD noch sozial?

Die SPD war in 15 der letzten 19 Jahre in der Bundesregierung. In dieser Zeit hat sie ihre Wahlergebnisse halbiert und ihr sozialdemokratisches Profil fast vollständig verloren. Die entscheidende Frage ist jetzt, ob die SPD sich in der Opposition wieder auf ihre Traditionen besinnt und zu einem sozialen Kurswechsel bereit ist. 

Was kommt nach HARTZ IV?

Wir setzen uns für einen solidarischen Sozialstaat ein, der vor Armut schützt und die Lebensleistung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer respektiert. Beides ist bei Hartz IV nicht der Fall. 

Wie sehen Sie die wachsenden Wünsche nach Regionalisierung, Beispiel Katalonien?

Ich bin grundsätzlich dafür, dass möglichst viele Kompetenzen vor Ort in den Kommunen bleiben. Dafür müssen die Gemeinden ausreichend Finanzmittel haben. Separatismus und neue Grenzen sind aber allenfalls Scheinlösungen, die neue Konflikte provozieren. Beim Konflikt um Katalonien kommt hinzu, dass die rechten Hardliner der spanischen Regierung schwere Fehler gemacht haben und den Konflikt weiter anheizen anstatt auf Gespräche über mehr Föderalismus und Autonomie zu setzen. Die Südtiroler Autonomie wäre ein gutes Vorbild für die Konfliktlösung – nicht nur im Fall Katalonien.

Was sagen Sie zum Kampf der Malser für eine pestizidfreie Gemeinde?

Ich verfolge die Aktivitäten mit Interesse und großer Sympathie. In deutschen Medien wurde schon häufig darüber berichtet. Der Einsatz der Pestizide hat nicht nur in Südtirol ungesunde Ausmaße angenommen. Mals ist zum Vorbild für viele Initiativen in ganz Europa geworden. 

Sie haben in Ihrem Wahlkampf das Motto aufgegriffen: „Wir leben nicht nur um zu arbeiten“. Wie halten Sie es damit in Ihrem Leben?

Ich bin gewerkschaftlichen Prinzipien verbunden, bei denen gute Arbeitsbedingungen und ausreichend Zeit zur Erholung zusammengehören. Die Tätigkeit als Abgeordneter ist natürlich untypisch, mit Terminen auch am Abend und am Wochenende. Mir ist ein politikfreier Sonntag und genügend Zeit für Familie, Freunde und Sport wichtig. 

Wann kommen Sie das nächste Mal nach Mals?

Wahrscheinlich im Frühjahr. Ich komme etwa zwei- bis dreimal pro Jahr in den Vinschgau. 

Friedrich Haring
Friedrich Haring
Vinschger Sonderausgabe

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