Grenze am Reschenpass nach dem Zweiten Weltkrieg.
Autor Hans-Joachim Löwer

Flucht über den Reschen

Wie jüdische Flüchtlinge über Reschen nach Palästina geschleust wurden.

Publiziert in 24-25 / 2021 - Erschienen am 20. Juli 2021

Reschen - Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs war Südtirol mehrere Jahre lang Schauplatz von Flüchtlingsströmen. Jüdische Holocaust-Überlebende wurden damals nach Palästina geschleust. Drei Jahre lang wurde Tirol zum wichtigsten Korridor für Flüchtlinge und Schleuser. Auch der Reschenpass wurde dabei zu einem „Flüchtlings-Hotspot“, dramatische Szenen spielten sich ab. Unter anderem darum geht es im kürzlich erschienenen Buch „Flucht über die Alpen. Wie jüdische Holocaust-Überlebende nach Palästina geschleust wurden“. der Vinschger hat mit dem Autor des Buches, Hans-Joachim Löwer, gesprochen. 

der Vinschger: Welche Rolle spielte der Reschenpass damals für jüdische Holocaust-Überlende auf ihrem Weg nach Palästina? 

Hans-Joachim Löwer: Zwei große Karten helfen im Buch, das komplexe Szenario zu verstehen, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 in Mitteleuropa herrschte. Deutschland und Österreich waren in sowjetische, amerikanische, britische und französische Besatzungszonen aufgeteilt. Auch Italien hatte nur eine begrenzte Souveränität, weil es unter der Verwaltung einer Alliierten Kontrollkommission stand. Die Schleuser nutzten das Chaos und die Schwachstellen, die es an fast allen künstlich gezogenen Grenzen gab. Der Reschenpass war eine der wichtigsten Alpenrouten, auf denen die illegalen Juden-Transporte organisiert wurden. In den ersten Monaten nach dem Kriegsende 1945 nutzten die Schleuser zunächst den Brenner, weil die Grenzkontrollen dort sehr lasch waren. Als dieses Schlupfloch dicht gemacht wurde, wichen sie auf den Reschen aus. Ganze Konvois von Autos und Lastwagen brachten Juden vom österreichischen Inntal hinauf bis zur Grenze, und auf der italienischen Seite warteten wiederum Fahrzeuge, um die Flüchtlinge weiterzutransportieren. Oft trugen die Autos Rot-Kreuz-Kennzeichen, und Insassen wurden als angebliche Tuberkulose-Patienten ins jüdische Sanatorium nach Meran gebracht – in Wahrheit war das Haus nichts anderes als eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Palästina.

Wer waren auf der Flucht über den Reschen ihre Helfer?  

Österreichische Grenzbeamte verdienten sich gern ein Zubrot, indem sie Flüchtlinge nachts auf Bergpfaden nahe der Etschquelle von Nord- nach Südtirol brachten. Italienische Grenzbeamte wurden entweder bestochen oder großzügig bewirtet, während draußen Hunderte von Menschen die Schlagbäume passierten. Die Fäden zog ein jüdisches Untergrund-Netzwerk mit Namen „Bricha“ (Flucht), das über fast ganz Europa gespannt war. Agenten saßen im Hotel Hochfinstermünz bei Nauders und steuerten von dort aus die Bewegungen der Konvois. Die „Bricha“ schloss im Frühjahr 1946 sogar ein Geheimabkommen mit den französischen Besatzern, die in Österreich die Bundesländer Tirol und Vorarlberg regierten. Die Franzosen waren froh, die jüdischen Flüchtlingsmassen möglichst schnell loszuwerden – so hatte die „Bricha“ am Reschenpass lange Zeit praktisch freie Hand.  

Wie reagierte Österreich? 

In Österreich hatten nicht die einheimischen Behörden, sondern die alliierten Siegermächte das Sagen. Die Briten, die als Mandatsmacht in Palästina herrschten, wollten eine jüdische Masseneinwanderung dorthin verhindern, weil sie einen blutigen Konflikt mit den Arabern fürchteten. Die Franzosen wollten möglichst nicht als Besatzer, sondern als Befreier auftreten. Die Amerikaner hatten die meisten Sympathien für die Zionisten – nicht zuletzt aus einem schlechten Gewissen heraus, weil sie zwar Hitler besiegt, den Holocaust aber nicht verhindert hatten. So setzte die „Bricha“ ganz auf das Wohlwollen der USA.

Was machte Italien? 

Die Italiener gaben sich alle Mühe, vor der Welt ihre Reue und Humanität zu demonstrieren. Sie waren einem Showman mit Namen Mussolini erlegen und hatten sich mit Hitler verbündet, nun mussten sie die Schmach einer Besatzung durch die Siegermächte ertragen. So drückten auch sie, was die Juden betraf, offiziell beide Augen zu. Sie wussten genau, dass ihr Land als Sprungbrett nach Palästina benutzt wurde – und dass die Flüchtlinge deswegen nur eine kurze Zeit im Land bleiben würden. An den Mittelmeerküsten warteten umgebaute Schiffe, um die illegalen Passagiere im Schutz der Nacht an Bord zu nehmen.

Wie sahen ihre Recherchen aus?

Die Zeitzeugen, die die Flüchtlingstransporte von 1945 bis 1948 miterlebten, sind mittlerweile fast alle tot. Ich war also auf das angewiesen, was es in Publikationen und Archiven gibt. Was den Reschenpass betrifft, so sind die Fakten besonders dünn gesät. Alle Anstrengungen, mein Material mit Hilfe lokaler Chronisten anzureichern, blieben erfolglos. Was ich zusammentragen konnte, fand ich in wissenschaftlichen Werken, die es dazu in Österreich und Italien gegeben hat. Und in renommierten Archiven wie zum Beispiel dem Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem (Jerusalem), dem American Jewish Committee (New York), dem YIVO Institute for Jewish Research (New York) und dem Holocaust Memorial Museum (Washington). Ich habe dann aber, was Stil und Sprache betrifft, ein ganz anderes, bewusst nicht-wissenschaftliches Buch geschrieben. Ich führe die Leser und Leserinnen an 50 Schauplätze und lasse sie, wie in einer Reportage, zeitnah das Drama aus Fleisch und Blut miterleben. Sie ziehen sozusagen mit den Juden durch die Lande – von Oberbayern und Niederösterreich nach Tirol, vom Brenner- und Reschenpass nach Meran, von Genua, La Spezia und Civitavecchia über das Mittelmeer nach Palästina. Und dort, im Land der zionistischen Träume, wartet auf die Juden schon wieder ein Krieg. Er wird zum längsten Konflikt unserer Zeit – und dauert an bis auf den heutigen Tag.

Michael Andres
Michael Andres
Vinschger Sonderausgabe

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