Für Respekt und Dialog
Youness Ghazali spricht über Integration, den Islam, das Frauenbild, über Vorurteile und seine neue Heimat, den Vinschgau.
Burgeis/Mals - Es war 1999, als Youness Ghazali aus Marokko zu seinem Vater zog, der sich im Obervinschgau niedergelassen hatte. Youness war damals 12 Jahre alt. „Ich bin in der Nähe von Marrakesch bei meiner Mutter und meiner Oma aufgewachsen. Als ich nach Burgeis kam, verstand ich kein Wort Deutsch und auch nicht Italienisch“, erinnert sich der jetzt 33-Jährige, der mittlerweile sogar fast perfekt den Vinschger Dialekt spricht. Wie ist es ihm gelungen, in neue Welt hineinzuwachsen? Youness: „Es war in erster Linie die Schule, vor allem die Lehrpersonen und die Freunde, die ich in der Schule und in der Freizeit kennenlernte und die mir beim Lernen der Sprache und beim Einstieg in die neue Kultur sehr geholfen haben. Dass der Satz ‚Deutsche Sprache, schwere Sprache’ tatsächlich stimmt, habe ich selbst hautnah festgestellt.”
Kontakte in der Schule und in der Freizeit
Zusätzlich zur Schule hat Youness auch sofort Kontakte für seine Freizeitgestaltung gesucht und auch gefunden, etwa als Fußballspieler. Nach dem Abschluss der Mittelschule besuchte er die 3-jährige Metallfachschule in Schlanders und absolvierte nachher ein Praktikumsjahr. Als er spürte, dass diese Arbeit doch nicht das Richtige für ihn war, „sattelte“ er um. Er meldete sich als Freiwilliger beim Weißen Kreuz Mals und absolvierte dort 2009 ein freiwilliges Zivildienstjahr. „Es war eine sehr schöne und lehrreiche Zeit“, erinnert sich Youness. Abgesehen von der Aus- und Weiterbildung habe er viele nette Menschen kennen und schätzen gelernt. Die Aufnahme in die „große Familie“ des Weißen Kreuzes habe seinen Horizont erweitert und ihm die Tür zu einer gelungenen Integration weiter geöffnet. Unvergessen bleiben Youness auch die Dankesworte vieler Patientinnen und Patienten, die er bei Krankentransporten und Rettungseinsätzen kennenlernte. Von 2014 bis 2018 war Youness Festangestellter beim Weißen Kreuz Mals. Mittlerweile arbeitet er als Fahrer von Gästen in St. Moritz in der Schweiz. Ganz eingestellt aber hat er die Freiwilligenarbeit beim Weißen Kreuz bis heute nicht: „Einmal im Monat bin als Freiwilliger in der Sektion Schlanders im Einsatz.“
„Der Wille, sich zu integrieren, muss gegeben sein“
Auf die Frage, wie Integration gelingen kann, antwortet Youness: „Das Wichtigste ist, dass die Menschen, die in ein anderes Land mit einer anderen Kultur und einer anderen Religion kommen, sich tatsächlich integrieren wollen. Sie müssen motiviert sein, in der neuen Gemeinschaft Wurzeln zu schlagen. Gute Möglichkeiten dazu bieten die Vereine, egal welcher Art.“ Er selbst habe das beim Fußballspielen erfahren. Wenn es ab und zu unschöne Bemerkungen gab, „waren es meine Fußballfreunde, die sich hinter mich stellten und mich in Schutz nahmen.“ Einen großen Hemmschuh für das Gelingen von Integration sieht er immer dann, „wenn sich zugewanderte Menschen abschotten, sich nicht öffnen, die eigenen vier Wände nicht verlassen und am Gemeinschaftsleben nicht teilhaben.“ Andererseits dürften Einwanderer von der angestammten Bevölkerung auch nicht ausgegrenzt werden. Und wie lebt es sich als praktizierender Muslim in einem überwiegend katholischen Land? Youness: „Ich bin überzeugter Muslim, bete 5 Mal am Tag, halte mich an den Fastenmonat Ramadan und befolge weitere Regeln des Islam.“
Für gegenseitigen Respekt
Auch für den Bereich der Religion gelte zunächst der Grundsatz des gegenseitigen Respekts. „Jeder soll den Glauben des anderen respektieren. Mich selbst stört es zum Beispiel überhaupt nicht, wenn in Schulen und an vielen anderen Orten Kreuze hängen. Das gehört hier zur religiösen Tradition und ist daher zu respektieren.“ Andererseits fordert Youness denselben Respekt auch Andersgläubigen gegenüber ein, die hier leben. Bedauerlich findet er es, dass rund um das Kreuz immer wieder öffentliche Debatten und Polemiken ausgetragen werden, „die leider oft von bestimmten Parteien bzw. Bewegungen bewusst vom Zaun gebrochen werden.“ Youness ist überzeugt, dass es bei den Anhängern aller Religionen Fromme und weniger Fromme oder gar Extremisten gibt. Er glaube grundsätzlich an das Gute und Positive im Menschen, egal welcher Konfession er angehört. Was ihn besonders stört, ist der Umstand, dass die Religion manchmal von der Politik bzw. von Parteien für eigene Zwecke benutzt oder gar missbraucht wird. „Wenn es zu terroristischen Anschlägen kommt, besteht die Gefahr, dass alle in den gleichen Topf geworfen werden und der Islam insgesamt in ein schlechtes Licht gerückt wird“, so Youness.
„Religion darf noch politisch missbraucht werden“
Dabei sei der Islam grundsätzlich eine Religion des Friedens, der viele Gemeinsamkeiten mit dem Christentum und Judentum hat: „Im Koran, unserer heiligen Schrift, wird der Mensch nicht aufgerufen, anderen Menschen Leid zuzufügen, sie gar zu töten oder einen Angriffskrieg in Angriff zu nehmen.“ Der Mensch soll gemäß dem Koran den Frieden lieben, er soll mit seinen Mitmenschen in den Dialog treten und ihnen nach Möglichkeit helfen. Was den gebürtigen Marokkaner besonders stört, ist die Tatsache, dass manchmal einzelne Sätze oder gar einzelne Wörter aus dem Koran, der immer als Ganzes zu sehen sei, herausgerissen und gezielt für bestimmte Zwecke missbraucht werden. Auch was das Bild der Frau betrifft, gebe es zum Teil Vorurteile und falsche Interpretationen. Youness: „Es ist keineswegs so, dass wir Muslime die Frauen grundsätzlich unterdrücken. In diesem Bereich wird Religion leider oft mit kulturellen Gepflogenheiten vermischt. Wenn muslimische Frauen ein Kopftuch tragen, tun sie es in der Regel aus Überzeugung. Sie wollen vermeiden, in der Öffentlichkeit ihre Reize zu zeigen.“ Im Koran sei in einer eigenen Sure festgeschrieben, dass die Frau einen hohen Stellenwert habe. Sie sei nicht als Gegenstand zu sehen, sondern zu achten. Laut Youness sollten sich die Einwanderer-Vereinigungen verstärkt dafür einsetzen, dass der Islam und seine Werte „ehrlich, wahrheitsgetreu und korrekt vermittelt werden.“
„Kein Problem mit Schweinfleisch“
Und wie geht er persönlich mit dem Essen von Schweinefleisch um? Youness: „Ich habe damit kein Problem. Wenn die Menschen hier Schweinfleisch essen oder Alkohol trinken, dann gehört das einfach zu ihrer Kultur und ich respektiere das. Wenn ich selbst kein Schweinfleisch essen will, verzichte ich ganz einfach darauf, bestehe aber nicht darauf, dass man mir eine eigene Speise serviert. Wenn es auch etwas anders gibt, nehme ich das und sonst eben nichts.“ Was Youness in seiner neuen Heimat unter anderem besonders schätzt, ist die Freiwilligenarbeit auf allen Ebenen und in vielen Bereichen: „Südtirol kann stolz sein auf seine Feuerwehren, das Weiße Kreuz, die Bergrettungsdienste und alle weiteren freiwilligen Hilfsorganisationen. Es wäre angebracht, allen Menschen, die sich freiwillig einbringen, nicht nur zu danken, sondern diese Vereine auch zu unterstützen. Ich beziehe mich hier weniger auf die finanzielle Hilfe, sondern mehr auf die bürokratische Last.“ Vorbildlich aufgestellt sei in Südtirol auch das Gesundheitswesen: „Die Ärzte und das Pflegepersonal erbringen in der Regel eine vortreffliche Arbeit, von der man in anderen Ländern oder Gebieten nur träumen kann.“