Zahlreiche Beispiele von Ungleichheit und Ungerechtigkeit in Südtirol prasselten aus dem Publikum auf Barbara Unmäßig, Harald Pechlaner und Davide Brocchi nieder.
Harald Pechlaner, Koordinator der Churburger Wirtschaftsgespräche
Barbara Unmäßig: Wir müssen umsteigen
Davide Brocchi: Südtirol resilienter machen
Hannes Götsch, Basis Vinschgau Venosta
Johannes Graf Trapp hat die Wirtschaftsgespräche angeregt

Neues aus dem Reallabor Vinschgau

Die Churburger Wirtschaftsgespräche sind immer noch Impulsgeber für die Regionalentwicklung.

Publiziert in 35-36 / 2021 - Erschienen am 26. Oktober 2021

Schluderns - „Mit leichtem Stolz“ hat Daria Habicher den Begriff Reallabor betont. Die aus dem Vinschgau stammende Forscherin am Center for Advanced Studies, Eurac Research meinte am Ende der Tagung überzeugt: „Der Vinschgau ist ein Reallabor!“ Demnach würde sich die neue Form „der Kooperation zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft mit gegenseitigem Lernen in einem experimentellen Umfeld“ (Wikipedia) gerade im Vinschgau anwenden lassen. Dies war nicht die einzige, aber eine bedeutende Schlussfolgerung aus der 36. Ausgabe der Churburger Wirtschaftsgespräche, die zum 3. Mal im Kultursaal von Schluderns stattfanden und sich mit „(Un)gleichheit neu denken“ befassten. Die Ausgabe 2021 eröffnete Bürgermeister Heiko Hauser, Schluderns, der als Veranstalter die Eurac, Basis Vinschgau Venosta und die Steinbeis Universität nannte. Er dankte als Initiator der Gespräche Johannes Graf Trapp und dem Koordinator Harald Pechlaner, Leiter des Center for Advanced Studies, Eurac Research. Graf Trapp, der mit Rechtsanwalt Ivo Greiter das Gründungsgremium vertrat, betonte die Rolle der Gemeinde Schluderns, die hinter der Veranstaltung stehe. Hannes Götsch, Projektleiter Basis Vinschgau und Mitorganisator, sah seine Landsleute experimentierfreudig und ermunterte, nach eigenen Möglichkeiten gegen die Ungleichheit vorzugehen. Koordinator Pechlaner sah auf einen gut besetzten Kultursaal, freute sich über das Interesse und machte aufmerksam, dass der Klimawandel zu weiteren Baustellen der Ungleichheit beigetragen habe. 

Global trifft lokal und wird glokal

Er stellte fest, dass wir über unsere Verhältnisse leben, dass wir zwar lokal produzieren, aber eine globale Verantwortung haben und dass man dies doppelsinnig mit „glokal“ ausdrücke. Die „Glokalen Ungleichverhältnisse“ visualisierte er mit einer Südtirol-Karte und stellte fest, dass „periphere Gemeinden und der Westen des Landes bei den Verdienstmöglichkeiten gegenüber anderen Gemeinden deutlich benachteiligt sind“. Damit leitete Pechlaner von den globalen Mechanismen der Ungleichheit - behandelt am Tag zuvor an der Eurac - zum regionalen Aspekt der Ungleichheit in den Churburger Wirtschaftsgesprächen über. Anregungen und Überlegungen dazu erwartete Pechlaner von der Politologin Barbara Unmüßig und ihrem Impulsvortrag „Global trifft lokal“. Sie eröffnete ihr Referat mit dem Hinweis, dass die Pandemie zur Ungleichheit beigetragen und die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft habe. Durch die modernen Informationstechnologien ziehe Globales Lokales und Lokales Globales nach sich. Sie sprach den Malser Volksentscheid an, die Monokultur der Obstwirtschaft und die Geschlechtergerechtigkeit. Lokale Ämter und Institutionen und damit lokale Machtverhältnisse seien für die Ungleichheit verantwortlich. Dass auch in Italien reichere Schichten um 10 Jahre länger leben, führte sie auf den Zugang zu Gesundheitssystem und Ernährung zurück. Aktuell würden auf der Erde 811 Millionen Menschen hungern, zwei Milliarden würden unter Mangelernährung leiden. „Dies zwei Milliarden zwingen uns, über die Nahrungsmittelproduktion nachzudenken und Fragen an die Landwirtschaft zu stellen“, so die Referentin. 

Nutzungskonflikte stehen bevor

Hunger bekämpfen heiße auch, Ungleichheit zu bekämpfen. Hungernde seien vom Klimawandel doppelt betroffen. Unmäßig ging auf die Machtkonzentration im Nahrungsmittelhandel und im Pestizid-Bereich ein. Landwirtschaft sei der größte Treiber beim Artensterben – noch vor dem Klimawandel. Sie erwähnte auch, dass aus der EU nicht mehr zugelassene Pestizide in die Schwellenländer exportiert werden. „Wir müssen auf andere Produktionsweisen umsteigen“, meinte sie. Es werde aber zu massiven Nutzungskonflikten kommen. Es klang dringend: „Wenn Sie etwas für diesen Planeten tun wollen, bitte tun Sie es jetzt!“ Moderator Pechlaner dankte „für die Steilvorlage“ und lud als nächsten Referenten den Publizisten und Transformationsforscher Davide Brocchi ein, mit seinem Vortrag „Nachhaltigkeit und soziale Ungleichheit. Warum es keine Nachhaltigkeit ohne soziale Gerechtigkeit geben kann“ an der „Red Line von Frau Unmäßig weiterzuarbeiten“ Mit einer verblüffend einfachen Erkenntnis eröffnet der aus der Gegend um Rimini stammende Wahlkölner: „Es gibt kein getrenntes Oben und Unten“. Sie stehen in Verbindung, meinte er und begann ein eindrucksvolles Plädoyer über soziale Ungleichheit. Konsequent stellte er die hypothetische Frage: „Wie kann man die Benachteiligung überwinden, wenn man nicht bereit ist, Privilegien in Frage zu stellen?“ Der Nachhaltigkeitsdiskurs finde von oben statt. Demokratie suche man vergebens unter den Zielen der Nachhaltigkeit. Scharf kritisierte er den „institutionellen Diskurs“, mit dem Instrumente definiert würden, die überhaupt erst zu Krisen geführt hätten. So fokussiere man sich beim Klimaschutz auf Innovation und Fortschritt, auf mehr Züge, mehr Radwege, mehr Elektroauto. Über die Reduktion des Flugverkehrs, der Autoproduktion und über Stromverbrauch werde ungern geredet. 

Monokulturen sind anfällig

Mit Sätzen wie: „Wir brauchen nicht nur Umverteilung von oben nach unten, wir brauchen auch eine Umverteilung vom Privatwesen zum Gemeinwesen“, hielt er die Erwartungen der Zuhörer hoch. Dazu zitierte er Einstein: „Probleme kann man niemals mit der gleichen Denkweise lösen, mit der sie entstanden sind.“ Es sei nicht das Klima, das unsere Existenz gefährde, entscheidend sei, wie eine Gesellschaft auf ihre Probleme reagiere. Nachhaltigkeit sei ein Synonym für Widerstandsfähigkeit und Krisenresistenz – mit einem Wort – für Resilienz. Brocchi fragte unter anderem: „Wie kann man eine Region wie Südtirol resilienter machen? Wo sind die Verletzlichkeiten der Region, wo und wie kann man sie überwinden? Nicht nur ökologische Monokulturen sind anfällig für Krisen, sondern auch ökonomische und geistige. Hingegen sei Vielfalt ein Fundament der Resilienz von Ökosystemen genauso wie von Sozialsystemen.“ Nachhaltigkeit sei nicht nur eine Notwendigkeit, sondern auch eine Chance, wenn es um die Frage des guten Lebens gehe. „Es gibt kein gutes Leben auf Kosten anderer“, zeigte sich Brocchi überzeugt. Gutes Leben könne nicht fremdbestimmt sein. Daher bedeute Nachhaltigkeit für ihn mehr Emanzipation statt Verzicht. Mit der Feststellung, jede Region habe die Möglichkeit zur Transformation - auch Südtirol kann zu einem Ort guten Lebens werden, beschloss Brocchi sein 40-minütiges Referat. Harald Pechlaners Reaktion: „Jetzt fühle ich mich wohl, wir hatten zwei Vortragende, die Klartext gesprochen haben.

Günther Schöpf
Günther Schöpf
Vinschger Sonderausgabe

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