Die Grazerin Brigitte Presker lehrt unter anderem an der Uni Graz und gilt als Expertin in Sachen Gestaltpädagogik, Gestaltberatung und Supervision.
René Reichel gilt als Experte in der Psychotherapie und Supervision und arbeitet als Ausbildner für diese Arbeits- felder. Von ihm stamm das Buch „Vom Sinn des Sterbens“.

Tabuthema Suizid 

Wenn die Seele verzweifelt: Ein offenes Gespräch mit zwei Experten. 

Publiziert in 42 / 2020 - Erschienen am 3. Dezember 2020

VINSCHGAU - Lange Zeit war das Thema Suizid ein absolutes Tabuthema. Früher galt Suizid sogar als eine Sünde. Auch heute noch wird der Freitod gesellschaftlich noch viel stärker verdrängt als das Sterben selbst. Wie kann man die Themen Sterben und Suizid aus der „Zone des Schweigens“ holen? Diese Frage stellte sich beim digitalen Stammtisch. Der Kulturverein BASIS hatte zum Online-Treffen geladen. Die Experten Brigitte Presker und René Reichel standen den Teilnehmern für Fragen und Antworten zur Verfügung. Auch der Vinschger hat mit den beiden gesprochen. 

der Vinschger:  Suizid, Selbstmord oder Freitod: Schon allein im Sprachgebrauch ist man häufig unschlüssig. Was empfehlen Sie? 

Brigitte Presker: Suizid, aus dem Lateinischen „sui“ für selbst und „caedere“ für töten bzw. morden ist ein gängiger Begriff, um distanziert und fachlich die doch sehr belasteten Ausdrücke Selbstmord, Selbsttötung, Freitod zu umschreiben. Suizid bedeutet aber inhaltlich nichts anderes als die vorsätzliche Beendigung des eigenen Lebens. Andere Umschreibungen wie „Hand an sich legen“, oder „sich das Leben nehmen“ bieten weitere Möglichkeiten zu Distanzierung.

Immer wieder taucht die Frage nach der Willensentscheidung auf. Ist Suizidalität eine Krankheit? Kann man dabei noch von einem freien Willen sprechen?  

René Reichel: Wir können von einer graduellen Willensfreiheit ausgehen, da unsere Souveränität in verschiedenen Situationen unterschiedlich hoch ist. Daher müssen wir auch unterscheiden zwischen einer Selbsttötung in einem Affekt und einer lange geplanten Selbsttötung.

Noch im Mittelalter galt der Suizid als Verbrechen. Bis zum 20. Jahrhundert war eine gewöhnliche kirchliche Bestattung nicht denkbar. Was hat sich im Umgang mit Suizid im Vergleich zu früher geändert? 

Brigitte Presker: Die Beurteilung des Suizids wechselt je nach den herrschenden sittlichen und religiösen Ansichten zwischen heftigster Ablehnung als Sünde gegen Gott und die Natur und Verherrlichung, z.B. das Harakiri in Japan. Im antiken Griechenland war der Suizid kein belastetes Thema, wurde öffentlich diskutiert und legitimiert, zum Beispiel bei Leiden aller Art. Auch bei Römern und Germanen galt er unter Umständen als ehrenvoll. Das Christentum betrachtete von Anfang an, auf Grund der persönlichen Verantwortung und Gottgebundenheit, den Suizid als schwere Sünde. „Selbstmördern“ wurde ein kirchliches Begräbnis verweigert. Unter diesem Einfluss war die Zahl der „Selbstmörder“ im Mittelalter gering. Später, im 18 Jahrhundert, dem Zeitalter der „Aufklärung“ mit seiner Lockerung der Bindungen an religiöse Werte kam es zu einer starken Zunahme der Suizide. Ja, es ging tatsächlich so weit, dass dieses Phänomen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen wurde. Gesellschaftlich betrachtet wurde dann ein „ehrenhafter Selbstmord“ z.B. im Duell oder bei Bankrott als legitim akzeptiert. Aus christlicher Sicht dauerte es bis 1983, bis Suizid kein Ausschließungsgrund für ein kirchliches Begräbnis mehr war. 

Aufgrund der Nachahmungsgefahr wird in Medien auf aktuelle Chronik-Berichterstattung zum Thema Suizid bewusst verzichtet. Eine nach wie vor sinnvolle Herangehensweise? 

René Reichel: Eine einfache Berichterstattung für einzelne Ereignisse allein kann gefährdete Menschen zusätzlich motivieren: „Der hat das geschafft, jetzt schaff ich das auch endlich.“ Das muss vermieden werden. Eine differenzierte Berichterstattung über das Thema „grenzenlose Verzweiflung“ oder „das Gefühl der Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit“ in Verbindung mit „Einsamkeit“ und der möglichen Folge der Selbsttötung ist sicher sinnvoll, damit die Thematik mehr „auf dem Tisch“ ist.

Wie sollte man in der Öffentlichkeit das Thema diskutieren? 

Brigitte Presker: Wie wir wissen, hilft „Totschweigen“ nicht. Vielmehr soll dem Thema durch Möglichkeiten des öffentlichen Austauschs vom persönlich Erlebten, dem Betroffensein und Beobachtungen aus der Zone des Schweigens und Verdrängens geholfen werden. Sachliche Informationen durch Experten in Kombination mit Hinweisen auf Hilfsangebote für Gefährdete, Beratungsstellen, Kriseninterventionsstellen und Notrufnummern sollen durch dementsprechende Veranstaltungen, Beiträge in Medien, Info-flyer etc. angeboten werden.

Was empfehlen Sie Angehörigen? 

René Reichel: Nach einem Suizidversuch ist die wichtigste Botschaft: „Wie gut, dass du lebst!“. Die Frage nach dem „Warum?“ ist in der ersten Zeit nicht gut, weil es immer etwas Unergründliches hinter einer solchen Tat gibt. Nach einem durchgeführten Suizid brauchen die Angehörigen Beistand, ohne viele Erklärungen. Man sollte einfach für sie da sein und auch anerkennen, dass manchmal Worte fehlen. Auf keinen Fall aber sollte man die Tatsache der Selbsttötung verschweigen, auch Kindern nicht. Es ist auch wichtig, dass gemischte Gefühle anerkannt und verstanden werden: Trauer, Angst, Wut, Schuldgefühle, alles kann durcheinander und gleichzeitig auftreten. Irgendwann später kann man vielleicht daraus lernen, aber das gelingt meist nur mit Unterstützung von außen.

Michael Andres
Michael Andres
Vinschger Sonderausgabe

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