Gespannt warten Heiko Hauser, Dirk Helbing und Johannes Graf Trapp (von oben) auf die Eröffnung der 1. digitalen Churburger Wirtschaftsgespräche
Aus dem Referat von Dirk Helbing
Der Projektmanager von Basis Vinschgau Venosta Hannes Götsch
Der Obmann der Bürgergenossenschaft Obervinschgau Armin Bernhard
Der Initiator der Wirtschaftsgespräche Johannes Graf Trapp im Gemeindehaus von Schluderns

„Verändern Sie die Welt!“

„Seien Sie Game Changer! Haben Sie den Mut!“, ermunterte Professor Dirk Helbing aus Zürich.

Publiziert in 39-40 / 2020 - Erschienen am 12. November 2020

Bozen - Der einflussreichste Game Changer, Spiel-Wechsler, war ein Spielverderber. Die Corona-Pandemie hatte auch die Churburger Wirtschaftsgespräche erwischt, die 35. in alter und neuer Fassung. Es waren die zweiten unter der Regie des Zentrums für angewandte Forschung Eurac in Bozen - diesmal in enger Zusammenarbeit mit dem Innovationszentrum Basis Vinschgau Venosta. Und sie waren die ersten Gespräche, die als Video-Schaltung abliefen – ablaufen mussten. Die Churburg war nicht einmal mehr eine Silhouette in der Ferne. Mit einigen technischen Mühen konnte der Pionier der Wirtschaftsgespräche, Johannes Graf Trapp, nicht aus seiner Burg, sondern aus der Residenz des neuen Bürgermeisters Heiko Hauser grüßen und mit sympathischer Offenheit gestehen: „Ich bin digital vollkommen unbrauchbar.“ Eurac-Direktor Harald Pechlaner versicherte Graf Trapp, dass es die Wirtschaftsgespräche weiterhin geben werde. Bürgermeister Hauser hoffte, der nächsten Ausgabe in „gewohnter Form“ wieder in seiner Gemeinde beiwohnen zu können. Den im Land verstreuten 43 Teilnehmern wurden einführend die Vinschgauer Akteure der ersten digitalen Wirtschaftsgespräche vorgestellt, darunter die mit organisierende Eurac-Mitarbeiterin Daria Habicher, der Obmann der Bürgergenossenschaft Obervinschgau, Armin Bernhard, und der Koordinator von Basis Vinschgau in Schlanders, Hannes Götsch. Als Moderator des Arbeitstisches „Landwirtschaft“ fungierte noch der Basis-Mitarbeiter Luca Daprà. 

Wir müssen experimenteller werden

Bereits im ersten Impulsreferat versuchte Dirk Helbing, ETH Zürich, aufzuzeigen, welche Chancen lokale Kreisläufe im digitalen Zeitalter haben könnten. Er kündigte enorme Transformationsprobleme für die herkömmlichen Industrien an und großen Handlungsbedarf durch die Verknappung der Ressourcen. Sehr konkret stellte er die Bedeutung von Biodiversität vor, von vernetzten Kreisläufen in der Natur und eines Versuches in Indien, aus dem Klima-Killer Landwirtschaft einen Klima-Retter Landwirtschaft zu machen. Helbings Kernforderung lautete: „Es braucht auf jeden Fall ein neues Denken“. Er fasste zusammen: „Es geht darum, dass wir digitale Systeme bauen, die Kreisläufe auf den Weg bringen.“ Harald Pechlaner fragte direkt: „Was würden Sie im Vinschgau mit den individuell angelegten Kreativitäten tun?“ Sinngemäß forderte Helbing auf, sehr viel experimenteller zu werden und die Folgen der Experimente gemeinsam zu tragen, aber auch gemeinsam zu nutzen. Der Experte für „Plattform-Kooperativismus“ Jonas Pentzien, Institut für ökologische Wirtschaftsforschung Berlin, nahm die bestehenden Plattformen, ihre Marktmacht, ihre Informationsmacht und ihre Monopolstellung unter die Lupe. Mit dem Konzept des Plattform Kooperativismus nach dem Genossenschaftsprinzip stellte der Referent Möglichkeiten vor, die Werte demokratische Entscheidungsfindung, gemeinsamer Besitz, Solidarität, Kooperation und Innovationsverständnis zu erhalten und zugänglich zu machen. Die größten Vorteile einer Plattform-Genossenschaft sah er im Wissensvorsprung auf lokaler Ebene und im Vernetzen mit global aufgestellten Plattformen. 

Wir müssen transdisziplinär denken

Die dritte „Impulsstimme“ war englisch und kam von der Französin Clothilde Sauvages. Als „Connector“, als Verbinderin, des internationalen Netzwerkes „Ouishare“ war sie von Basis Vinschgau eingeladen worden. Wortreich stellte sie ihre Organisation vor als Stifter „von Begegnungen zwischen verschiedenen Akteuren aus verschiedenen Ecken der Gesellschaft und als Führer in der Erschaffung neuer Formen der Zusammenarbeit“ (Quelle: Internet-Auftritt Ouishare). Die Frage von Hannes Götsch nach Vorzeigeprojekten in einem ländlichen Gebiet wie der Vinschgau beantwortete sie allgemein mit Partnerschaften im Kleinen. Pechlaner wollte die Bedeutung von „Leadership“, Menschenführung, bei Ouishare wissen. Es folgten drei Arbeitskreise. Im ersten sollten Visionen für den Vinschgau entwickelt werden. Nach dem Festtags-Motto der Bürgergenossenschaft Obervinschgau (BG) am 4. Oktober „Hier & danach“ stellte Armin Bernhard die Frage: „Wie kann es weitergehen?“ Der Obmann der BG und Bildungswissenschaftler Bernhard nannte als Ziel seiner Genossenschaft „die Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft des Oberen Vinschgaus“. Es brauche eine andere Kultur in dieser Welt voller Krisen. Als BG habe man sich vorgenommen, zukunftsfit zu werden, indem man kleinen und kleineren Unternehmen ein Netzwerk biete. Es gehe um die Frage, wie man in der Vinschgauer Landschaft gut leben könne. „Wir wrdeb die Zukunft nicht mehr sektionell denken können, wir müssen transdisziplinär denken“, meinte Bernhard. 

Entscheidungsträger wollen nur bewahren

Die Entscheidungsträger versuchen nur zu retten; sie würden weiterhin nur Bestehendes bewahren, stellte Bernhard fest. Er glaube, dass sich die Gesellschaft vor allem durch die kulturelle Auseinandersetzung entwickle. Nur im kulturellen Bereich würden Begegnungen und Austausch stattfinden; nur dort würden Räume für einen gemeinsamen Dialog entstehen. „Krisenbewältigung in der heutigen Gesellschaft und Nachhaltigkeit können wir nur mehr zusammen denken“, so Bernhard. „Wir wissen, dass das heutige Wirtschaften am Ende ist, wie wissen aber nicht genau, wie das zukünftige aussehen kann. Daher brauchen wir Genossenschaften als Brücken. Wir (die BG) sind ein Experiment und versuchen herauszufinden, welche Brückengeländer wir brauchen. Wir versuchen der zusätzlichen Industrialisierung ein Schnippchen zu schlagen“, erklärte Bernhard. Er nannte den internationalen Bekanntheitsgrad von Mals als Vorteil für die BG und deren Vernetzung. Auf Nachfrage von Referent Pentzien wurde auch die unterschiedliche Bedeutung des Begriffs „Bürgergenossenschaft“ geklärt. In Südtirol könne man sie auf ein Territorium und deren Bewohner beziehen; in Deutschland sei darunter jedwedes gemeinschaftliches Unternehmen zu verstehen. 

Wir brauchen eine andere Dynamik

Basis-Projektleiter Hannes Götsch gab an, dass der mittlere und untere Vinschgau durch die Gelder aus Landwirtschaft und Tourismus verwöhnt, aber strukturell schwach aufgestellt sei. „Wir brauchen jetzt eine andere Dynamik, sonst verschlafen wir alles“, zeigte er sich überzeugt. Gefragt seien Macherinnen und Macher, die progressiv denkend agieren, die für sich und andere Verantwortung übernehmen und sich auch hier ansiedeln. Man dürfe nicht mehr in klassischer Wachstumslogik denken, daher mache man das, was es nicht gebe: Man zeige Kanten und sei ironisch und frech. Ihr Job (der Basis) sei es, Annäherungen zwischen Stadt und Land besser abzubilden und zu vermitteln, dass private Räume auch kleiner sein können, wenn man sie gemeinschaftlich nützt und sie allen zur Verfügung stünden. Bildungsinitiativen seien bis hin zu universitären Lehrgängen zu etablieren. Die sehr schwach diversifizierte Landwirtschaft sei nicht zukunftsfähig. Daher sei es wichtig, zusammen mit der Bildungsgenossenschaft und anderen Bildungsinstitutionen Diversifikation in diesen ländlichen Raum zu bringen. Im Endeffekt sei es ein Gesinnungswandel im Umgang mit Wachstum und Ausgleich, der über Generationen zu denken sei. „Was können wir aber jetzt schon tun?“, fragte sich Götsch. „Wir können uns im Kleinen zusammentun und uns solidarisieren. Wir können erheben, welche Kompetenzen wir schon haben und welche wir erwerben müssen. Wir (Basis und BG) können versuchen, digitale Plattformen zu finden, um Kompetenzen und Ressourcen zu bündeln. Wir haben ja ähnliche Ideen“, lautete die Antwort. 

Von g‘scheiden Vinschgern

Die ausführliche Vorstellung der „Vinschgauer Player“, Bürgergenossenschaft und Basis Vinschgau, weckte in einer Sterzinger Teilnehmerin den „dringenden“ Wunsch, das „besondere Menschenschlagl“ im Vinschgau kennenzulernen. Der Landschaftsarchitekt Roland Dallagiacoma wollte wissen, ob es junge Touristiker im Obervinschgau gäbe, die „anders ticken als die in der Val Badia“. Moderator Michael de Rachewiltz erkundigte sich nach dem Zustand des Vinschger Breitbandnetzes. Der IT-Fachmann der VI.P, Andreas Oberhofer, wollte wissen, was im Vinschgau alles möglich sei, ohne in den Noi-Tech-Park nach Bozen fahren zu müssen. In der Phase des Zusammenfassens fand es Professor Harald Pechlaner für „g‘scheid, dass die Vinschger diese Strukturen haben“ und einen „Superschritt, dass BG und Basis“ zusammenarbeiten. 

Günther Schöpf
Günther Schöpf
Vinschger Sonderausgabe

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