Vom Schutzwald zum Hochwasserschutzwald
Ein Interreg-Projekt befasste sich mit Ursachen und Folgen von Freiflächen im Schutzwald.
Webinar - Mit der Feststellung „Wir Menschen stellen Ansprüche an die Leistungen des Waldes und können uns Blößen nicht leisten“, eröffnete der Abteilungsdirektor für Forstwirtschaft Günther Unterthiner ein im ganzen Land von 120 Interessierten verfolgtes Webinar des Bundesforschungszentrums für Wald (BFW) mit Sitz in Wien. Wie so oft im Vinschgau stand einmal mehr der Schutzwald im Mittelpunkt. Neu daran war die Form eines Interreg-Projekts, neu war der Begriff „Blößen“, nicht ganz neu war der hydrologische Aspekt „Abflussbildung“, aber beeindruckend neu war die wissenschaftliche Sorgfalt, mit der ein halbes Dutzend Wissenschaftler die Grundlagen zum Webinar geliefert hatten. Federführend, also Lead-Partner war das Amt der Tiroler Landesregierung in der Person von Patricia Schrittwieser. Projektpartner war die Abteilung Forstwirtschaft in Südtirol. Die Projektgebiete lagen im Bundesforstinspektorat Landeck und im Forstinspektorat Schlanders. Das Interreg Projekt V-A Italien Österreich wurde zu einem Kostenpunkt von 170.100 Euro zwischen 1. März 2018 und 31. Mai 2020 abgewickelt. Organisator des Webinars mit Ergebnisvorstellung war Forstinspektor Georg Pircher in Schlanders, unterstützt von Mitarbeiter Andreas Platter als Moderator.
Richtungsweisendes Projekt
In seiner Einleitung stellte Pircher als Projektziel „die Ausarbeitung von allgemeinen und übertragbaren Bewirtschaftungshinweisen und Handlungsstrategien“. Was wir vom „Klimawandel im Alpenraum“ zu erwarten haben, fasste Christian Scheidl vom Institut für Alpine Naturgefahren, BOKU Wien, zusammen. Die Rede war von intensiveren Dürreereignissen, von schnellerem Abschmelzen der Schneedecke und von einer Zunahme der mittleren Niederschlagsintensitäten bei gleichbleibender Gesamtanzahl der Niederschlagstage. Scheidl nannte das Projekt Blößen richtungsweisend. Frank Perzl vom Institut für Naturgefahren im Bundesforschungszentrum für Wald hatte sich die Fragen gestellt: Nehmen Blößen zu? Wenn ja, wird diese Zunahme durch mehr Wald ausgeglichen? Wie wirken sich Blößen und ihre Zunahme auf die (hydrologische) Schutzwirkung des Waldes aus? Sorgfältig wurde der Begriff „Waldblöße“ definiert. Perzl stellte eine „deutliche Zunahme von Waldblößen im Studiengebiet Tanas“ fest ohne Kompensation durch Waldflächenzunahme. Veronika Lechner, BFW Innsbruck, behandelte die Praxis durch Beregnungsversuche, Bodenfeuchtemessungen und Feststellen von Rutschungspotenzialen.
Wald und Wasserhaushalt
Bernhard Kohl, BFW Innsbruck, sprach über die Anwendung des Programms ZEMOKOST zur Abschätzung von Hochwasserabflüssen im 11,5 km2 großen, südexponierten Einzugsgebiet des Tanaser Baches (Gemeinde Laas) zwischen 876 und 3.081 Höhenmetern und einem Jahresniederschlag von 494 mm. Auf nordtiroler Seite wurde das größere und nordexponierte Gebiet um den Istalanzbach in Paznaun mit der doppelten Jahresniederschlagsmenge untersucht. Für Tanas konnte bewiesen werden, dass durch gezielte Aufforstung der Oberflächenabfluss um bis zu 35% gesenkt werden kann, durch Weidenutzung dieser aber um 20% steigt. Gerhard Markart, BFW Innsbruck, trug schließlich die „Handlungsempfehlungen für eine hydrologisch optimierte Waldbewirtschaftung“ vor. Dazu wurde festgestellt, dass es eine Vielzahl von Anleitungen für Waldbewirtschaftung gibt was Naturgefahren oder Forststraßenbau betrifft, aber keine Anleitung zur Verbesserung der hydrologischen Wirkung des Waldes. Einzuführen sei der Begriff Hochwasserschutzwald. Es wurden Baumarten mit hohem Wasserverbrauch vorgeschlagen und eine sofortige Wiederbewaldung empfohlen. Eingegangen wurde auch auf die Veränderung der Bodenverhältnisse durch Wegebau, Holzlagerplätze und Eingriffe beim Skipistenbau. Angeführt werden Arten von Rutschungen im Wald im Zusammenhang mit Waldstruktur und Bewirtschaftung. Eine rechtzeitige Wiederbewaldung und die Vermeidung eines einheitlichen Gleithorizontes durch einen Baumarten-Mix seien zu empfehlen. Angesprochen wurde auch das Umwandlungskonzept der Schwarzkieferbestände mit Empfehlungen von Laubholzarten. Gewarnt wurde vor Vergrasung und vor intensiver Beweidung, weil die Ansamung der Lärchen behindert würde.
Systemwechsel gefordert
Als die Folie von der Verjüngungssituation und den Verbiss-Raten auftauchte, werden manche Forstexperten-Herzen wohl schneller geschlagen haben. Besonders der Satz: „Alle vorher angesprochenen Punkte können an diesem (Verbiss, Anm.) scheitern“, dürfte die Wirkung nicht verfehlt haben. Georg Pircher fasste in seinem Resümee vor allem praxistaugliche Empfehlungen zusammen. Er prägte den Begriff „durchlöcherter Wald“ anhand einer Baumhöhenkarte des Tartscher Waldes. Er bestätigte die Zunahme von Blößen und eine verzögerte Wiederbewaldung durch Wildverbiss. „ Wir im Vinschgau haben gesehen, dass es Probleme mit der Schutzwirkung gibt und dass Handlungsbedarf besteht“, war eine klare Aussage. Für ihn eine wichtige Erkenntnis den Vinschgau betreffend hätten die Beregnungsversuche zum oberflächlichem Abfluss nach Starkregen ergeben. Auf Grashängen des waldfreien Sonnenbergs wurde eine Abflussmenge von 65% festgestellt. Nur mehr 26 % gab es im aufgeforsteten Schutzwald und 0% Abfluss bei Mischwald. Die Fragen und Stellungnahmen der Zuhörer kreisten samt und sonders um den Wild-Verbiss. Dazu forderte Klaus Bliem, Forststation Schlanders, einen radikalen „Systemwechsel“ durch das Übertragen des Wildmanagements an die Forstwirtschaft.