Prof. Rosi Braidotti
Prof. Franz Eder
Prof. Martin M. Lintner
Prof. Heribert Prantl
Andreas Steinle

„Vom Wandel getrieben, den Wandel gestalten“

So lautete das Thema der 27. Marienberger Klausurgespräche, die vom 5. bis zum 7. Oktober stattgefunden haben.

Publiziert in 19 / 2023 - Erschienen am 24. Oktober 2023

MARIENBERG - Auch heuer trafen sich im Kloster Marienberg Vertreter aus verschiedenen Bereichen (Kultur, Wirtschaft, Politik, Schule, Kirche) zu den Klausurgesprächen, bei denen über bestimmte, gesellschaftspolitisch relevante Themen referiert und diskutiert wird. Den Veranstaltern gelingt es Jahr für Jahr immer wieder, renommierte Referentinnen und Referenten zu den Gesprächen einzuladen – an einen Ort, der zum Nachdenken und Reflektieren geradezu ideal ist. Der Präsident des Kuratoriums Marienberger Klausurgespräche, Günther Andergassen, wies bei der Eröffnung der Veranstaltung darauf hin, dass sich seit den ersten Klausurgesprächen im Jahr 1992 das Thema „Politik im Spannungsfeld zwischen Ethik und Sachzwang“ wie ein roter Faden durchzieht. „In Zeiten zunehmender ökologischer und wirtschaftlicher Verwerfungen gilt es nicht nur nach Ursachen zu fragen, sondern vor allem auch nach Faktoren zu suchen, die es den Gesellschaften ermöglichen, solche Situationen zu meistern und vor allem um das Vermeiden solcher Krisen“, so Andergassen. Den Reigen der Vorträge der 27. Auflage der Klausurgespräche eröffnete P. Martin M. Lintner. Er sprach zum Thema „Warum wir tun, was wir tun – Vom Antrieb, Ziel und Sinn unseres Handelns“. Lintner begann seine Ausführungen mit einem Witz: „Frag hundert Katholiken, was das Wichtigste ist in der Kirche. Sie werden antworten: die Messe. Frag sie, was das Wichtigste ist in der Messe. Sie werden antworten: die Wandlung. Sag ihnen, dass das Wichtigste in der Kirche die Wandlung ist. Sie werden empört sein: Nein, alles soll bleiben wie es ist.“ Auch auf der gesellschaftlichen Ebene brauchen wir laut Lintner einen Wandel. Krisen bieten Chancen, über nötige Entwicklungen und Änderungen zu reflektieren und gesellschaftlich zu diskutieren. Dabei besteht vielfach Konsens darüber, dass es ein „Weiter so!“ nicht geben wird. Laut Lintner brauche es einen Wandel; die Menschen tendieren allerdings dazu, diesen Wandel nicht bei sich selber oder bei ihren Interessengruppen einzufordern, sondern bei den anderen. „Wir sind in festgefahrenen Gleisen drinnen – die Bequemlichkeit hindert uns oft daran, entscheidende Schritte zu machen.“

Russland und der Krieg in der Ukraine
In einem weiteren Vortrag sprach Prof. Franz Eder aus Innsbruck über „Russland, die Ukraine, der Krieg und die Zukunft der europäischen Sicherheitsarchitektur“. Bei Kriegen gehe es laut Eder meistens um geopolitische Fragen. Laut Prof. Eder ist Russland der Meinung, dass die Ukraine „ein geopolitisches Missverständnis“ sei. Vier Botschaften will die russische Führung demnach mit diesem Krieg aussenden:  an den postsowjetischen Raum: eine Warnung, dass diese Staaten sehen, wozu Russland in der Lage ist, sollte sich Widerstand gegen russische Interessen regen; gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft: Russland sieht sich als Großmacht und möchte auch so behandelt werden; Signal an die USA: Die Politik der Vereinigten Staaten widerspricht den Ordnungsvorstellungen Russlands; innenpolitische Botschaft: Der eigenen Bevölkerung zeigen, dass die russische Führung eine starke Führung ist. Skeptisch äußerte sich Eder über den weiteren Verlauf des Krieges beziehungsweise über ein Ende des Krieges. „Ich sehe derzeit keine Möglichkeit für einen Verhandlungsfrieden. Russland ist sicher nicht bereit, eroberte Gebiete zurückzugeben. Gleichzeitig glaubt die Ukraine, den Krieg gewinnen zu können.“ Leider müssen wir uns auf einen langen Krieg einstellen, wobei ein sogenannter „eingefrorener Konflikt“ droht. Sicher ist laut Eder, dass die Politik des Westens, die über viele Jahre die Hoffnung hatte, mit einem „Wandel durch Annäherung“ eine Demokratisierung in Russland zu befördern, gescheitert ist.

Gegen die Rhetorik des Jammerns
Die Philosophin Rosi Braidotti, die an der Universität Utrecht einen Lehrauftrag für Genderstudien hat, beschäftigte sich mit dem Thema „Die Ehtik der Freude – gegen die Rhetorik des Jammerns“. Für sie wurde mit den Entwicklungen in den Bereichen Biowissenschaften und Genomik, Neurowissenschaften und Robotik, Nanotechnologie und neuen digitalen Informationstechnologien eine Zäsur im Selbstverständnis der Menschheit vollzogen. Wir befinden uns laut Braidotti demnach in einem neuen posthumanen Zeitalter. Die Menschen spüren, dass Auswüchse der Technologien, ökologische Desaster und soziale Ungleichheit große Bedrohungen darstellen. Die Verunsicherung darüber schlägt vielfach in Frustration und Wehklagerei um.
Braidotti ruft dazu auf, sich den Widersprüchen dieses Übergangs zu stellen. In der Ethik der Freude, die Braidotti von dem ganzheitlichen Verständnis des Universums von Spinoza und dem Vitalismus von Deleuze ableitet, sieht sie eine Chance für eine zukunftsweisende Neuorientierung. Der Megatrendexperte und Neugierforscher Andreas Steinle sprach zum Thema „Wie sich die Zukunft lesen lässt und warum Neugier hierfür am wichtigsten ist“. Laut Steinle beginnt die Zukunftsgestaltung mit der eigenen Selbstreflexion. „In Zeiten der Krisen – wie derzeit – blicken wir häufig pessimistisch in die Zukunft oder noch schlimmer voller Angst, die uns bei der Erschaffung wünschenswerter Zukünfte im Weg steht. Dabei ist die menschliche Vorstellungskraft und der Wille, diese umzusetzen, der größte Einflussfaktor auf die Zukunft. Hierfür müssen wir jedoch eine häufig verschüttete Ressource frei legen – die Neugier.“ Sie sei laut Steinle die wohl mächtigste – und am meisten unterschätzte Ressource, wenn es darum geht, dem Wandel nicht nur positiv gegenüberzustehen, sondern diesen aktiv zu gestalten. „Neugierige Menschen können besser mit Druck umgehen. Sie verzagen nicht so schnell, weil ihre Neugier sie zu kreativeren Lösungen führt – unter anderem durch die Offenheit, die sie für die Perspektiven und Ideen Anderer aufbringen.“ Die schlechte Nachricht ist allerdings: Vielen Menschen wurde die Neugier weitgehend ausgetrieben. Die gute Nachricht ist: Neugier lässt sich wieder aktivieren und trainieren. Hierfür gibt es spezifische Methoden, die wir alle in unserer Arbeit und in unserem Leben anwenden können.

Migration: „Schicksal des Jahrhunderts“
Zum Abschluss sprach der Journalist („Süddeutsche Zeitung“) und Autor Heribert Prantl zum Thema „Hoffnung und Widerstand – Gedanken eines Journalisten zu Zeit und Unzeit“. Eingangs verglich er die Reaktion der Menschen in Europa angesichts der vielen Toten zu Beginn der Corona-Pandemie in Italien mit der Reaktion Europas auf die anhaltende Migration, die seit 2014 weit über 20.000 Todesopfer gefordert hat. Während die Anteilnahme und der Schock bei den Corona-Toten in Europa groß war, nehmen wir die Toten im Mittelmeer inzwischen fast teinahmslos hin. Prantl bezeichnete die Migration als das „Schicksal des Jahrhunderts“. Es müsse darum gehen, legale Wege zu öffnen, um die Migration in den Griff zu bekommen. Es müsse das humane Motto gelten: „Wir behandeln die Flüchtlinge so, wie wir behandelt werden möchten.“ In Zeiten wie diesen brauchen die Menschen laut Prantl Hoffnung. „In der Hoffnung steckt die Kraft des Handelns; und diese Kraft steckt in der Arbeit, wie sie zum Beispiel Hilfsorganisationen leisten, die sich in der Migrantenhilfe engagieren. „Je größer die Probleme, desto größer ist die Hoffnung. Die Hoffnung fängt mit dem eigenen Tun an. Deshalb: Zerreißen wir den Mantel der Gleichgültigkeit!“, so Prantl abschließend.

Walther Werth

Redaktion
Vinschger Sonderausgabe

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