„Der Herr will wohl in’s Hochgebirge?“
Tagebuchaufzeichnungen einer Ortler-Besteigung vor 140 Jahren
Vinschgau - Wie bestieg man den Ortler vor 140 Jahren? Einen gediegenen Einblick in dieses Unterfangen gewähren handschriftliche Tagebuchaufzeichnungen von Heinrich Betzler aus Esslingen, der den Ortler 1879 bestiegen hat. Walter Nallinger aus Stuttgart (1893-1964), der Großvater (mütterlicherseits) von Franz Angerer aus Kortsch, hat die Aufzeichnungen im Jahr 1956 mit der Schreibmaschine übertragen. Nallinger war nicht nur aus familiären Gründen ein Liebhaber Südtirols und des Ortler-Gebietes. Daher hat er den übertragenen Bericht seinerzeit Freunden, Bekannten und Geschäftspartnern zukommen lassen und somit indirekt für Sulden geworben. Franz Angerer hat dem
der Vinschger einen Durchschlag von Heinrich Betzlers Aufzeichnungen aus dem Jahr 1879 zukommen lassen. In seinem Vorwort verweist Nallinger auf die mühevolle und tagelange Anreise, die Betzler auf sich nahm. Er hatte seine Reise in Friedrichshafen begonnen „und nahm den Weg über Schruns und durch das Montafon in die Schweiz. Dann durch das Unterengadin, Val Skarl, Santa Maria und machte dann einen Umweg nach Mals, weil er Gelegenheit hatte, sich zusammen mit einem anderen Reisenden einen Einspänner zu mieten.“ Nun aber zu den „Reiseskizzen“ von Betzler:
In Münster hörte der Postwagen auf und da das Unwetter in einen Orkan verwandelte, so nahm ich mit einem Herrn zusammen einen Einspänner bis Mals. Es war dies für mich ein Umweg, da von Santa Maria aus ein Weg über die Berge auf die Stilfser-Straße führt. Diesen konnte ich jedoch so nicht benutzen, fuhr also deshalb nach Mals auf die Landstraße. Bald kam die Grenze, unser Gepäck wurde genau visitiert. Dann begann eine schauderhafte Fahrt, die gute Schweizer Straße vertauschte sich mit einer österreichischen, die keine Straße mehr zu nennen war. Jeden Augenblick glaubten wir umgeworfen zu werden und alle Rippen taten uns weh. Um sieben Uhr abends kamen wir in Mals an und entschädigten uns für die strapaziöse Fahrt durch ein gutes Nachtessen in der Post.
Samstag, den 24. August kurz nach 5 Uhr morgens verließ ich Mals, erreichte in einer halben Stunde Glurns, ein befestigtes kleines Städtchen an der Etsch, die hier kanalisiert ist. Nach anderthalb Stunden kam ich nach Lichtenberg, in einem Wald von Obstbäumen reizend gelegen und überragt von der gleichnamigen Burg Lichtenberg. Um 8 Uhr war ich in Prad am Fuß der Stilfser Straße. In dem engen Tal, in welches die Straße nun tritt, hat diese und der Trafoibach kaum Platz. Der letztere bildet an manchen Stellen hübsche Fälle. Weiter rechts oben auf dem Berge liegt Stilfs. Gerade in südlicher Richtung öffnet sich ein schöner Blick auf die Trafoier Eisberge und nördlich bleibt die breite Schneepyramide der Weißkugel im Ötztal lange in Sicht.
In Gomagoi (beide Wasser) öffnet sich östlich das Suldental, aus dem der Bach gleichen Namens herunterstürzt und sich hier mit dem Trafoi vereinigt. Hier wollte ich mich mit einer guten Vesper auf den weiteren Weg stärken und näherte sich mir in höflicher Weise ein junger blonder Mann mit ehrlichen blauen Augen mit den Worten: „Der Herr will wohl in’s Hochgebirge?“ Auf meine Bejahung bot er mir seine Dienste als Führer an. Er gefiel mir sogleich gut, doch da ich schon einige Führer durch Empfehlung kannte, frug ich nach dem Namen und war er Alois Pichler, der mir speziell von den Herren H. und M. empfohlen war. Ich ließ mir noch zur vollständigen Gewißheit sein vom Amt ausgestelltes Führerbuch zeigen und dankte dem glücklichen Zufall, der mich sofort den rechten Mann finden ließ. Er bezeugte große Anhänglichkeit an die Sektionsmitglieder Schwabens und kannte deren ziemlich viele persönlich. Ich engagierte ihn nun auf die Ortlerspitze auf den folgenden Tag, trank mit ihm ein Fläschchen Wein, überließ ihm mein Gepäck und wanderte nun frohen Sinns den Suldenbach entlang. Gegen Mittag war ich in der Alphütte Racoi (Razoi A.d.R.), löschte meinen Durst mit frischer Milch und erreichte bei prächtigem Wetter um 1 ½ Uhr Sulden oder St. Gertrud.
Inmitten grüner Matten gelegen und umgeben von den Spitzen: Ortler – Zebru – König – Cevedale – Sulden – Butzen – Vertain – und Schöntauf Spitze. St. Gertrud besitzt zwei Gasthäuser, das kleinere, weniger besuchte, aber auch gute Gasthaus zum Ortler und das größere Hotel St. Gertrud, geführt von den Schwestern des Kuraten Eller. In diesem letzteren traf ich um 1 ¾ Uhr ein, erhielt ein kleines Zimmer ohne jeglichen Komfort (Bett, Stuhl, Tisch). Wer hier oben mehr beansprucht, soll eben die Berge lieber von der Ferne ansehen und hübsch unten bleiben. Ich erhielt ein Eckzimmer mit Aussicht auf Vertain und Schöntaufspitze, und auf der anderen Seite 10 Minuten entfernt das Ortlergasthaus.
Nach kleiner Toilette begab ich mich in den Speisesaal und ist aber das Speiseverhältnis bei weitem nicht so primitiv wie das des Wohnens. Bald war ich mit den Gästen bekannt: … (es folgen weitere Aufzählungen)
Am Sonntag Morgen gingen wir alle zur Kirche schon um 6 ½ Uhr und wohnten einer Predigt des Bruders des Herrn Kuraten bei, die in jeder Hinsicht Lob verdiente und die man im Land der Glaubenseinheit nicht erwartete. Wir besuchten die Gräber der im vorigen Jahr verunglückten Führer Reinstadler und Zischg. Hernach Frühschoppen im Ortler, wo selbst ich noch die Bekanntschaft des Herrn Dr. L., Vorstand der Sektion Graz machte, der ebenfalls bei der heutigen Ortlerpartie war, aber immer noch nach einem Führer fahndete. Auf einem Umweg kehrten wir in unser Hotel zurück, um ein gutes Diner einzunehmen und hierauf den Caffé vor dem Hause zu trinken.
Jetzt ging ein reges Treiben los. Ein Dutzend Führer gingen geschäftig ab und zu, um alles Nötige auf die Touren herbeizuschaffen. Wir waren 9 Touristen mit 8 Führern. Nachdem ich mir eine Schneebrille und einen tüchtigen Bergstock besorgt hatte, fehlte mir zu meiner Ausrüstung nichts mehr. Proviant, Plaid und Steigeisen wurde alles in des Führers Rucksack untergebracht. Um 2 ½ Uhr brachen wir auf, begleitet von den Glückwünschen der übrigen Gäste. In 5 Minuten waren wir schon außer Bereich Suldens und dann ging‘s bergan zuerst durch Wald und dann über eine große Moräne und später meist über Felsen bis wir um 7 Uhr abends auf der Payerhütte ankamen. Dieselbe liegt geschützt in einer Einsattlung des Tabarettakammes. Die Tabarettawände sind scheinbar senkrecht und sehen von unten herauf und von oben herab unbesteiglich aus, doch findet man überall, wenn auch mühsam und gefahrvoll einen Pfad. Nur einmal wird eine 5 m hohe Leiter zur Tabaretta Scharte benutzt, einer Einsenkung des Kammes, wo sich höchst überraschend die Aussicht nach West und Nord öffnet.
Die Payerhütte liegt 3066 m hoch und hat deren Erbauung keine geringe Mühe und Kosten verursacht, sowie die immerwährende Herbeischaffung von Brennmaterial. In dem untern Raum der Hütte ist ein Ofen, ein Herd, Tisch, Stühle und eine lange Holzpritsche mit 10 darauf gelegten Matrazen, die Führer schlafen auf Stroh unter dem Dach. Anstatt des Wassers muß Schnee aushelfen, der hier meist frisch zu haben ist, da es jeden Tag auch im Juli und August vorkommen kann, daß es hier oben schneit. Die Führer waren nun alle beschäftigt mit Holzspalten, Schnee herbeischaffen, Feuer machen und bald hatten sie auch eine gute Suppe, Eier und Fleisch fertig und sprachen wir auch alle in Anbetracht der uns morgen erwartenden Strapazen dem Essen und dem Wein tüchtig zu.
Gegen zwei Uhr versicherten uns die Führer, daß wir oben gutes Wetter haben werden. Nun wurde wieder gekocht und ordentlich gefrühstückt und kurz nach 3 Uhr verließen wir die Hütte, um unter dem Tabarettagletscher zur Scharte zu kommen, wo sich ein imposanter Blick auf den ganz im Schnee und Eis gehüllten Ortler bietet. Dann durch den sog. Kamin steil hinab auf Schutt und Geröll bis zum Obern-Ortler Ferner, der sich rechts in das Tal der hohen Eisrinne hinabsenkt.
Schon beim Beginn der Tabarettawände hatte jegliche Vegetation aufgehört, jetzt aber hörte auch vollends alles auf, das an Boden oder Stein erinnert. Nur Firnschnee und hohe, fast senkrechte Eiswände bilden den Weg zur Spitze. Ein kurzer Halt wurde gemacht, um die Steigeisen anzuschnallen und ging‘s mühsam aufwärts über den sehr stark geneigten Gletscher, hierauf einige Spalten und dann wieder weniger steil bis zu einer senkrechten Eiswand. Hier konnten wir Touristen wieder etwas ausruhen, bis die Führer grobe Stufen in das blanke Eis gehauen hatten, wobei man zwar immer der Gefahr ausgesetzt war, von den losgeschlagenen Eisstücken getroffen zu werden. Ich hatte auch wirklich das Unglück von einem solchen nicht unbedeutenden Stück auf den rechten Oberschenkel getroffen zu werden und fiel ich fast zu Boden. Der Stoß war aber nicht so heftig, um mich an weiterem Vordringen zu verhindern, Bei der folgenden Partie ist die größte Vorsicht zu beobachten und geht es daher auch sehr langsam. Für die linke Hand ist auch noch ein Loch ins Eis gehauen, rechts wird der Bergstock tüchtig eingestoßen und glücklich wurde die Wand erklommen. Nach anderthalb Stunden weiteren mühsamen Steigens befanden wir uns endlich vor dem 200 Schritte langen, scharfen Schneegrat, dessen entgegengesetztes Ende der höchste Punkt des Ortlers ist und somit den höchsten Punkt der deutschen Alpen bildet.
Die Aussicht von solcher Höhe war natürlich großartig. In der Ortlergruppe selbst treten besonders hervor: die schöne Königspitze, die ihren Namen mit Recht verdient und ist es schade, daß sie betreffs der Höhe nicht den ersten Rang einnimmt, ferner der Cevedale, Thurwieserspitze und Cristallspitzen. Im Norden die Hohen Tauern mit Glockner, Dreiherrenspitze, dann hat man noch einen weiteren Blick auf die Zillertaler-, Stubaier- und Ötztaler Alpen, östlich die Dolomiten mit Marmolata, Palle di San Martino, sodann im Westen die Schweiz mit Silvretta, Bernina und Finster-Ahorngruppe. Auch hatten wir einen Blick in das Tal und zwar auf die Malser Heide. Wir blieben fast eine Stunde hier sitzen und da wir uns an der Fernsicht nicht genug satt sehen konnten, so ließen wir uns kalten Braten und ein Glas Wein und Enzian auch trefflich munden.
Um 8 ½ Uhr traten wir wieder den gefährlichen Rückweg an, denn der scharfe Grat ist nur für Schwindelfreie passierbar, der zu beiden Seiten steil und oben kaum fußbreit ist. Die Eiswand passierten wir mit dem Rücken gegen die Wand und kamen wir sämtlich glücklich bis zur Payerhütte hinunter. Hier nahmen wir wieder einen anderthalbstündigen Aufenthalt, während welcher Zeit übrigens mein Fuß Zeit hatte, anzuschwellen und verursachte er mir beim Abstieg über die Felsen heftige Schmerzen. Um 3 Uhr nachmittags kamen wir wieder in Sulden an. Den Rest des Nachmittags sowie den Abend verbrachten wir sehr vergnügt, wozu der treffliche Humor des Herrn Dr. Br. viel beitrug. Auch noch den folgenden Tag brachte ich hier zu, bis sich mein Bein etwas besserte und ich es daher am Mittwoch unternahm, in Gemeinschaft eines Wieners die Schauppach-Hütte und Butzenhöhe zu besuchen. Mittwoch Nachmittag verließ ich Sulden und meine mir in der kurzen Zeit so lieb gewordenen Bekannten.
Wie man vor 140 Jahren reiste, wird auch im Nachwort von Nallinger aufgezeigt. Nach der Ortler-Besteigung „wanderte Betzler weiter über das Vintschgau bis zu dem schönen, aber heißen Meran. Der Wanderer bereut die gesunde Luft von Sulden mit dem heißen Südtirol vertauscht zu haben.“ Er schildert dann noch den „regen Verkehr in der Gegend von Bozen mit Stellwagen, Postwagen, Omnibussen, Equipagen, Einspännern und Lastwagen mit 6-8 Pferden.“ Betzler setzt dann seine Reise nach dem Gardasee fort „z.T. mit der Eisenbahn, besucht Riva und kommt bis Verona. Von dort aus kehrt er über den Brenner, Innsbruck und wieder in einer großen Fußwanderung über Landeck, Arlberg bis Bludenz, wo er gerade noch einen Zug nach Bregenz erreichte, nach Friedrichshafen zurück.“