„Egal was es ist, ich trage es mit“
Naturns - Sich selbst verletzen, um mindestens etwas zu spüren und zu fühlen, auch wenn es nur der Schmerz ist. So umriss der Psychologe und Sexualberater Hartmann Raffeiner, der eine Praxis in Naturns betreibt, das komplexe Thema der Selbstverletzung. Raffeiner war kürzlich vom Jugenddienst Meran als Referent für den Online-Abend zum Thema Selbstverletzung eingeladen worden, zu dem sich über 70 Interessierte angemeldet hatten. Raffeiner stellte einleitend die vielen Formen von Selbstverletzung vor. Die Palette reicht von überzogenem Nägelbeißen bis hin zu Ritzen, Schneiden, Verbrennen und andere Methoden, die Schmerzen verursachen. Auch das bewusste Eingehen von Risiken, die möglicherweise Schmerzen zur Folge haben können, gehört im weiteren Sinne dazu. Die Selbstverletzung ist kein eigenes Krankheitsbild, sondern zumeist das Symptom tiefer liegender psychischer Schwierigkeiten oder Störungen. Die Ursachen können demnach entsprechend unterschiedlich sein: Beziehungskälte in der Familie, Stress, Frust, Einsamkeit, Überforderung, Minderwertigkeits- oder Schulgefühle. „Was alle Arten von Selbstverletzung verbindet, ist die Absicht der Betroffenen, sich wehzutun, um den Schmerz zu fühlen, weil sie sonst keine andere Möglichkeit sehen, Gefühle auszuhalten oder auszudrücken“, fasste Raffeiner zusammen. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass sich vor allem 12- bis 16-Jährige selbst verletzen und dass es sich bei ca. 60 Prozent davon um Mädchen handelt. Der Selbstverletzung liegt meistens die Unfähigkeit zu Grunde, mit existentiellen Problemen und negativen Gefühlen, mit denen wir alle von Geburt auf konfrontiert werden, umzugehen. „Die Selbstverletzung ist ein Verzweiflungsversuch, etwas zu lösen, was man für unlösbar hält,“ so der Referent. Einen Schlüssel für einen Ausbruch aus diesem Kreis sieht er im Aufbau von Beziehungen: „Wir Menschen brauchen eine Beziehung zu uns selbst und wir brauchen eine Beziehung zu einem Du.“ Die Betroffenen brauchen Menschen, denen sie vertrauen und die ihnen sagen: „Egal, was passiert, ich trage es mit.“ Hartmann Raffeiner rief die Zugeschalteten in diesem Sinn dazu auf, Selbstverletzungen ernst zu nehmen, den Mut zu haben, die Betroffenen mit Feingefühl anzusprechen, in sie hineinzuschauen und - noch besser - eine Beziehung mit ihnen aufzubauen. Bagatellisieren sei ebenso falsch wie Dramatisieren. Wenig sinnvoll sei es auch, sich sofort nur auf das Warum und Wieso zu konzentrieren: „Und wenn es tatsächlich eine ‚Wurzelbehandlung’ braucht, gibt es dafür zuständige Stellen.“ Im Rahmen der Diskussion verwiese der Referent unter anderem auch darauf, wie wichtig es ist, „sich manchmal gehen zu lassen, gemeinsam verrückte Dinge zu tun und auch mal ganz unbeschwert zu leben.“ Wie sich die Corona-Pandemie bzw. die damit verbundenen Einschränkungen auf Kinder und junge Menschen ausgewirkt haben und immer noch auswirken, umschrieb Raffeiner mit einem einzigen Wort: verheerend. Er wolle aber trotz allem optimistisch bleiben und positiv in die Zukunft schauen: „Das müssen wir derzeit alle!“ Der Online-Abend war ein weiterer Teil der Reihe „Red mor amol driber ...“ (www.infopoint.bz).
