„Noch Luft nach oben“
HGV geht in die Offensive
Vinschgau - Over-Tourismus, steigender Verkehr, zunehmende Verbauung, überlaufene Anziehungspunkte. Es sind diese und weitere Probleme, aufgrund derer die Tourismusbranche letzthin zum Teil stark in den Brennpunkt der öffentlichen Kritik geraten ist. Dass es nicht angeht, ausschließlich im Tourismus den sprichwörtlichen Sündenbock für alle Probleme zu suchen, unterstrich die HGV-Spitze am 10. Oktober im Rahmen eines Medien-Frühstücks im Gasthaus „Schwarzer Adler“ in Schlanders. Mit Daten, Zahlen und Fakten versuchten HGV-Präsident Manfred Pinzger, HGV-Bezirksobmann Hansi Pichler, HGV-Gebietsobmann Karl Pfitscher und HGV-Direktor Thomas Gruber zu untermauern, dass die Realität zum Teil anders aussieht, als sie oft dargestellt werde, dass man nicht das ganze Land über einen Kamm scheren dürfe, dass es speziell in einigen Gemeinden im Mittel- und Obervinschgau durchaus noch Luft nach oben gebe und dass daher eine touristische Entwicklung in diesen Gemeinden nicht nur nicht verhindert, sondern gezielt unterstützt werden müsse.
Die Situation im Land
„Der Tourismus hat Südtirol Wohlstand bis in die Täler und Fraktionen gebracht. Südtirols Tourismus kann nur dann weiterhin erfolgreich sein, wenn er im Einklang mit der Bevölkerung gestaltet wird“, fasste Manfred Pinzger sein grundsätzliches Credo zusammen. Er erinnerte zusammen mit den weiteren HGV-Vertretern an eine Umfrage, die der HGV im Vorjahr zur Tourismusgesinnung bei der Südtiroler Bevölkerung durchgeführt hat: „Für 95 Prozent der Befragten überwogen die Vorteile des Tourismus in Südtirol, für 5 Prozent die Nachteile.“ Als größte Herausforderungen für die Zukunft nannten die Befragten den Verkehr, die Mobilität und die bauliche Entwicklung.
Arbeitsplätze, Wertschöpfung und mehr
Dass es das Phänomen der Abwanderung aus peripheren Gebieten in Südtirol kaum gibt, führen die HGV-Vertreter nicht zuletzt auf die Tätigkeit der touristischen Betriebe und deren Angebote vor Ort zurück: „Die Bevölkerung findet in den ländlichen Gegenden Arbeitsplätze, was wiederum die Voraussetzung dafür ist, vor Ort eine Existenz aufbauen und eine Familie gründen zu können.“ Im August 2019 belief sich die Zahl der in der Tourismusbranche beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter landesweit auf 38.500. Der Tourismus sei derzeit somit der größte private Arbeitgeber in Südtirol. „Und rund 80 Prozent der im Gastgewerbe tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind italienische Staatsbürger“, präzisierte Thomas Gruber. Die vom Tourismus geförderten Infrastrukturen, sprich Wanderwege, Seilbahnen, Lifte, Skigebiete, Museen und Wasserwelten, tragen dazu bei, dass die Attraktivität Südtirols als Wohn- und Wirtschaftsstandort erhöht wird. Mit rund 2,2 Milliarden Euro stammen rund 11 Prozent der direkten Wertschöpfung in Südtirol aus dem Tourismus. 16 Prozent an indirekter Wertschöpfung kommen dazu. Außerdem seien die Hotellerie und die Gastronomie die größten Auftraggeber für die lokalen Handwerksbetriebe: „Sie nutzen in hohem Maß die lokalen Dienstleistungen, den Handel und sind eine der größten Abnehmer der Produkte der heimischen Landwirtschaft.“ Zum Thema Verkehr und Mobilität hält die HGV-Spitze fest, dass der Verkehr generell zunimmt, der Transitverkehr ebenso wie der Reiseverkehr, was natürlich auch für den Vinschgau zutrifft. Nicht zu vergessen sei aber auch die Zunahme des hausgemachten Verkehrs. „Wenn am Reschen täglich rund 6.000 Autos gezählt werden, sind es in Rabland über 20.000“, gab Manfred Pinzger zu bedenken. Die einzige realistische Alternative liege darin, „Verkehr zu vermeiden und zu verlagern, und zwar auf die öffentlichen Verkehrsmittel.“ Eine konkrete Maßnahme in diese Richtung habe der HGV kürzlich mit der Initiative Südtirol-Transfer gesetzt, die am 1. Oktober angelaufen ist. Es handelt sich um einen landesweiten Anschluss-Shuttle-Service, der die Gäste vom Bahnhof und der Fernbushaltestelle direkt in die Unterkunft bringt. „Somit wird es noch attraktiver, mit Bus und Zug nach Südtirol anzureisen“, so Manfred Pinzger.
Bahnverbindung mit der Schweiz als Ziel
Als große Chance bzw. Möglichkeit für die westliche Landeshälfte und ganz Südtirol wertete Hansi Pichler eine Bahnverbindung mit der Schweiz. Zusammen mit dem HGV-Präsidenten stimmte er darin überein, dass man diese Vision nicht aus den Augen verlieren, sondern sich permanent dafür einsetzen müsse, auch wenn das Interesse seitens der Schweiz für eine Anbindung an den Vinschgau derzeit nicht besonders groß sei. Als Illusion und völlig unrealistisch bezeichnete Karl Pfitscher die Idee einer Bahnverbindung von Mals nach Landeck (Reschenbahn). Sehr positiv wertet der HGV hingegen die derzeit laufenden Arbeiten zur Elektrifizierung der Vinschger Bahn. Thomas Gruber verwies u.a. darauf, dass die Fahrgastkapazität verdoppelt wird, dass die Bahn künftig im Halbstundentakt verkehren und dass ein Umsteigen in Meran nicht mehr notwendig sein wird.
„Nicht überall gibt es genug Betten“
Im Gegensatz zu anderen Gebieten in Südtirol und speziell auch im Burggräfler Raum hinkt die touristische Entwicklung in einigen Gemeinden im Vinschgau laut Hansi Pichler nach: „Während in bestimmten Gemeinden im Burggrafenamt die quantitative Entwicklung die Grenze erreicht hat, gibt es in einigen Gebieten im Vinschgau durchaus noch Luft nach oben.“ Noch deutlicher wurde Karl Pfitscher: „Besonders in Gemeinden im Mittel- und Obervinschgau müssen quantitative Entwicklungen möglich sein.“ Er bezog sich auf die Ausweisung von Tourismuszonen und die Erweiterung bestehender Betriebe. „In Schlanders zum Beispiel ist die Zahl der Gästebetten von seinerzeit fast 2.000 auf nunmehr 1.300 gesunken“, gab der Gebietsobmann zu bedenken. „Es ist kaum zu glauben, aber im Gemeindegebiet von Schlanders haben wir innerhalb einer gar nicht so langen Zeit 10 Hotels verloren“, ergänzte Manfred Pinzger. Zur baulichen Entwicklung im Tourismus auf Landesebene hielt der Präsident fest, „dass es nie so war und nie so sein wird, dass diese völlig ungesteuert erfolgt ist bzw. erfolgen wird.“ Es habe immer klare Grenzen gegeben „und diese wird es auch in Zukunft geben.“ Es sei in der Vergangenheit darauf geachtet worden, „dort Entwicklung zu fördern, wo sie notwendig war, aber auch gegenzusteuern, wenn Bedarf dazu bestand.“ Mit dem neuen Gesetz für Raum und Landschaft, „das am 1. Jänner 2020 in Kraft treten muss, ist die Ausweisung neuer Tourismuszonen in touristisch entwickelten und stark entwickelten Gebieten stark eingeschränkt worden.“ Jede Gemeinde müsse sich über die touristische Entwicklung Gedanken machen, auch darüber, wie viel man an Entwicklung haben möchte. Dieses müsse Teil des Gemeindeentwicklungsplans sein.
Bettenrückgang in 54 Gemeinden
Mit detaillierten Fakten zur baulichen Entwicklung im Tourismus wartete Thomas Gruber auf. So habe Südtirol derzeit mit 227.966 ungefähr gleich viele Betten wie 1985. In 54 Gemeinden sei seit 2007 ein Bettenrückgang zu verzeichnen. Laut Gruber müsse die bauliche Entwicklung differenziert betrachtet werden. Laut ASTAT-Daten wurde im Jahr 2017 in Südtirol insgesamt 4.028.836 Kubikmeter verbaut. 38,7 Prozent davon entfielen auf den Bau von Wohngebäuden und 61,3 Prozent auf Nicht-Wohngebäude. „Und im Bereich der Nicht-Wohngebäude hat die die Landwirtschaft 15,6 Prozent verbaut. Auf das produzierende Gewerbe und das Handwerk entfielen 20,9 Prozent, auf Dienstleistungen ohne Tourismus 3,3 Prozent und auf den Tourismus 17,8 Prozent.“ Nicht zu vergessen seien in puncto bauliche Entwicklung auch die nicht gewerblichen Beherbergungsbetriebe, sprich Urlaub auf dem Bauernhof und Privatzimmervermietung. „Diese sind mit rund 50.000 Betten und somit einem Drittel der Betten in Hotelbetrieben eine gewichtige Realität im Tourismus in Südtirol“, so der Direktor. Wenn über Steuerungsmechanismen in der Hotellerie entschieden werde, müsse dies auch für den Urlaub auf dem Bauernhof und die Privatzimmervermietung gelten.
Stichwort Nachhaltigkeit
Für den HGV sei die Nachhaltigkeit laut Manfred Pinzger schon seit längerer Zeit mehr als nur ein Schlagwort: „Bereits seit 2014 beschäftigen wir uns als Unternehmen mit dem Thema Nachhaltigkeit und messen bereits zum dritten Mal den eigenen CO2-Fußabdruck, der mittels entsprechender Ausgleichsmaßnahmen kompensiert wird.“ Besonders für eine Urlaubsdestination wie Südtirol, „die mit einer herrlichen Kultur- und Naturlandschaft wirbt, muss die Nachhaltigkeit ein wichtiges Thema sein.“ Nicht zuletzt seien es auch zunehmend die Gäste, die Wert auf einen nachhaltigen und klimaverträglichen Urlaub legen. Was der HGV ebenfalls groß schreibe, seien die Themen Regionalität, lokale Produkte und kleine Kreisläufe. Nicht prinzipiell abgeneigt zeigten sich die HGV-Vertreter für neue Infrastrukturprojekte. Zur Anbindung Langtaufers-Kaunertal meinten Pinzger und Pfitscher, dass man grundsätzlich hinter diesem Vorhaben stehe, „allerdings müsste es aber auch vor Ort einen möglichst breiten Konsens für ein derartiges Vorhaben geben.“ Viel zu tun gebe es u.a. noch in Bezug auf die Aufwertung des Nationalparks Stilfserjoch und den weiteren Ausbau der Passstraße auf das Joch als Panoramastraße und damit zusammenhängender Maßnahmen. Viel Potential orten die HGV-Vertreter zudem in der Aufwertung des Areals vor dem Turm im Reschensee. Das hierfür von der Gemeinde Graun und dem Land ins Auge gefasste Projekt sei voll zu unterstützen.