Der erstklassige Zweitrangige
Publiziert in 38 / 2008 - Erschienen am 29. Oktober 2008
Laas – Er saß 1962 mitten unter Heinrich Böll, Günther Grass, Walter Jens in der Gruppe 47. Er war nicht die erste Wahl als Direktor der Berliner Akademie der Künste. Im Literaturbetrieb wurde er als „immer zweitrangig, aber erstklassig“ gehandelt. Dem vor zehn Jahren verstorbenen Laaser Ehrenbürger Franz Tumler galt das am 16. und 17. Oktober in Bozen und Laas stattgefundene Symposium.
Initiiert wurde das Symposium vom Forschungsinstitut Brenner-Archiv unter der Leitung von Johann Holzner und Barbara Hoiß, in Verbindung mit der Plattform Weltordnung-Religion-Gewalt (Universität Innsbruck), dem Kreis Südtiroler Autoren und Autorinnen im Südtiroler Künstlerbund, dessen Vorsitzender Ferruccio Delle Cave die Vinschgau-Führung in der Bahn übernahm. Die Einladung, sich anhand verschiedener Vorträge mit einer kritischen Relektüre auseinanderzusetzen, beinhaltete Vorträge in Bozen und Laas. Einige Aspekte der Forschung und die Etappen der Tumler’schen Lebenslandschaften Südtirol, Oberösterreich und Berlin brachten durchaus weniger Bekanntes zu Tage. Der von Norbert Florineth, Mitglied der Franz-Tumler Gesellschaft, geführte literarische Spaziergang durch das Laas Tumlers’ war auch Teil des zweitägigen Symposiums, zu dem der Sohn des Schriftstellers anreiste.
Sohn Tilman Tumler kennt die Innsbrucker Holzner und Hoiß schon länger: wegen der Schwierigkeiten um die Neuverlegung der Tumler’schen Werke, in deren Mittelpunkt die Witwe Sieglinde John steht. Ganz unmöglich scheint die eine oder andere Neuauflage dennoch nicht: Suhrkamp legte vergangene Woche „Der Mantel“ neu. Barbara Hoiß ist mit der Situation, die vergriffenen Werke wegen der Weigerung von John neu aufzulegen, wohlvertraut. Wie es nun Suhrkamp gelungen sei, „Der Mantel“ neu herauszubringen, sei auch ihr „ein Rätsel“.
Die Franz Tumler Gesellschaft, eine lockere Gemeinschaft von rund 130 Mitgliedern, zu denen unter anderen Sigrid Haller, Armin Schönthaler, Jörg Hofer, Herbert Raffeiner und Wilfrid Stimpfl gehören, empfing samt Bürgermeister Andreas Tappeiner die aus Bozen kommenden Gäste: Die kleine Reisegruppe folgte Norbert Florineth zu Orten, die für Tumler von Bedeutung waren; oft hatte er diese Plätze literarisch verarbeitet. Für Tumler bleibt das Leben eine Reise – sesshaft wird er nicht. Für Barbara Hoiß bleibt Tumler vor allem deshalb spannend, weil er sich „nicht auf den ersten Blick“ erschließe, die Poetik der Wiederholungen, die eine eigene Atmosphäre erschaffe, beeindruckt die Philologin. „Die Landschaftsbeschreibungen gehören mit zu dem Besten, was er je geschrieben hat“, sagt Hoiß, die ihre Dissertation über Tumler „Ich erfinde mir noch einmal die Welt“ betitelte. Dies habe er in der Tat getan – so war auch die Begeisterung für den Nationalsozialismus Grund genug, sich wieder zu erfinden. Ob Tumler die Gruppe 47 aus politischen Gründen verließ oder deswegen nach 1962 nicht wieder eingeladen wurde, ließ Referent Wilhelm Burger offen. Sich neu erfunden hat allerdings nicht nur der Südtiroler Schriftsteller. Burger selbst war wichtig, „das Nebeneinander von Schriftstellern mit unterschiedlicher Biographie“ aufzuzeigen, die „trotzdem eine Gruppe waren.“ Viele Literaturwissenschaftler und Kritiker haben sich nicht, so Burger weiter, die Mühe gemacht, „tatsächlich das zu lesen, was die Schriftsteller geschrieben haben.“ (kat)
Tilman Tumler, 1938 in Berlin geboren: „An der Familie hatte mein Vater nicht viel Interesse. Ich hatte ein Buch von ihm gelesen, dann hieß es: Jetzt liest du nichts mehr. Der Grund wurde uns dafür nicht genannt. Später hat es mich nicht mehr interessiert. Ich studierte Romanistik und Anglistik und erschloss mir dadurch eine ganze literarische Welt. Wir vier Geschwister haben nicht alle den gleichen Vater – das wurde uns lange verschwiegen. Nein, das Vatersein hat ihn nicht interessiert.“
Katharina Hohenstein