RAUM UND ZEIT
Publiziert in 7 / 2004 - Erschienen am 8. April 2004
Mals. Pfarrturm. Steile Treppen, verankert im gewaltigen Mauerwerk, klettern durch den dunklen Raum bis zum Räderwerk der Uhr, die noch immer händisch aufgezogen wird; vier „Turmknechte“ wechseln sich jeden zweiten Tag ab. Bei starkem Wind muss eingegriffen werden. Der Vinschger Wind zerrt nämlich an den großen Zeigern, verlangsamt oder beschleunigt sie - wie auch immer -, die windkundigen „Turmknechte“ müssen nachhelfen, mischen sich in die Zeitmessung, indem sie in die großen Gewichtszylinder einen Stein dazulegen oder herausnehmen. Man muss dem ablaufenden Räderwerk gut zureden, damit der Mechanismus im Sinne der genauen Zeitmessung arbeitet. Zeit und Wind. Windzeit.
Wir erreichen allmählich den Glockenstuhl. Durch das große gotische Schallfenster fallen letzte Strahlen und erleuchten das Spruchband. Über dem Kaiserlichen Doppeladler lese ich „defunctos ploro, “ich beklage die Verstorbenen.“
Die älteste Glocke in der Malser Pfarrkirche wurde im Jahre 1561 von den Brüdern Caspar und Peter Sermondo aus Bormio gegossen. In Bormio oder hier? Wahrscheinlich wurde die Gussform unter dem Turm aufgebaut und so konnte die fertige Riesenglocke von der Turmbasis aus hinaufgezogen werden.
Dann erreichen wir die getäfelte Turmstube. Sie stammt aus der Erbauungszeit, ist also etwa 500 Jahre alt. Hier hielt sich der Turmwächter auf, hatte eine Schlafstätte und in einem kleinen Nebenraum auch einen gemauerten Ofen mit Kochgelegenheit.
Wie lange gab es in Mals einen Turmwächter? Die Antworten darauf klingen unsicher; jedenfalls gab es ihn noch während des Ersten Weltkrieges. Aufgehört hat alles mit den Italienern: Das viele Militär und die Polizeikräfte, die hierher verlegt wurden, duldeten keine zivile Konkurrenz.
Und jetzt feiern hier manchmal auserwählte Gäste des Hausherrn, des Herrn Dekans; bei dieser Gelegenheit wird die Geschichte der Turmes, des Ortes, der Glocken und der Uhr erzählt. Um frische Luft zu schnappen, verlassen die Zecher die getäfelte Stube, gehen hinaus auf die Brüstung und schauen hinunter auf die Malser Dachlandschaft. Wenn sie nicht ganz schwindelfrei sind, bücken sie sich und schauen durch die Marmorsäulen der Balustrade.
Von hier aus konnte der Turmwächter die ganze Umgebung überblicken. „Überhängend“ in die Vergangenheit sind wir alle...der Fritz, die Mercedes, der Marjan, natürlich auch ich. Allen, die in den Büchern zu lesen wissen oder aus Erzählungen und Überlieferungen schöpfen, öffnen sich Räume der Vergangenheit. Raum und Zeit. Kaum anderswo begegnen wir diesen beiden Begriffen „sinnlicher“.
Eine ganz andere Raum- und Zeiterweiterung gelingt dem Blaas Lorenz, dem Hirten und Künstler, der auch Lou genannt wird. Seit Jahren betreut er zusammen mit seiner Frau und seinen zwei Kindern die Fürstenalm bei Chur. Dabei verwandelt er neben seiner Arbeit als Hirte Fundstücke, läßt Kunstwerke entstehen, die er manchmal auch in Ausstellungen zeigt.
„Hirtenkunst“, ausgehend von elementaren Gegenständen und von der Notwendigkeit, Ordnung in das Verlorene, Verstoßene zu bringen. So wird ein altes „Schürtürl“ zur abgelegten Ritterrüstung, hinter den Eisenplatten strahlt noch immer die Glut. Holz, entstanden aus dem Liebesakt zwischen Sonne, Wasser und Erde...wir spüren das Knistern verbrennender „Larchn“, „Förchn“,“Latschn“ und es riecht herrlich nach Paradies.
Seine künstlerische Tätigkeit nennt Lou „Goggoloarelen“. Das ist Orgelspiel... Steine, Metalle, Hölzer werden zum Klingen gebracht.
Er, der gelernte Koch, macht aus verschiedenen Zutaten überraschend Schönes, Schmackhaftes, Genießbares, Nahrhaftes. Und nicht zu vergessen die vielen Hunde, Katzen, Vögel...alle haben Platz in seinem Haus. Der Raum wird durch die Fülle der Gegenstände nicht kleiner, sondern größer. Das Haus steht am Ausgang des Martelltales, in Morter, in der Nähe der Pfarrkirche. Es ist voll von eigenen Schöpfungen, von „erlösten“ Materialien. Hier ist der Wohnsitz der Familie Blaas bis zum Sommer; dann geht es auf die Alm, hinauf in eine andere Welt, aus der zurückzukehren gar nicht so leicht ist. Es ist schwierig, sich wieder „unten“ einzuleben, erzählt Lou... schwierig das Zurück in die Hektik des Obstklaubens im herbstlichen Vinschgau.
„Gott behüte Hirten und Herden“ steht auf dem Türsturz der Fürstenalm. Und daneben ist - zur Sicherheit - ein nach unter offenes Hufeisen genagelt. Die „Fürstenalm“ ist ein schlichter, aber technisch funktionaler Neubau, der trotzdem Aufnahme fand in einem bemerkenswerten Buch: DER TRAUM VOM ANDEREN WOHNEN - Von der Almhütte bis zum Zirkuswagen (Gerstenberg 2001, isbn 3-8067-7).
Wohnen auf einer Alm, auf einem Boot, in einem Kloster, auf einem Schloss, in einer Mühle, also wohnen im Grün der Bergmatten, unter blauem Himmel und aufsteigendem Nebel, wohnen zwischen den Höhlen der Murmeltiere und den Kondensstreifen der Flugzeuge ...der Gottesdienst wird eingeläutet von Viehglocken... Wind im Gebläse der Orgel.
Text, Fotos und Gestaltung: Hans und Ulrich Wielander