„Die zweite große Kränkung der Menschheit“
Publiziert in 7 / 2009 - Erschienen am 25. Februar 2009
Am 12. Februar 2009 jährte sich zum 200. Mal der Geburtstag des englischen Naturforschers Charles Darwin. Er ist durch seine Evolutions- und Abstammungslehre weltberühmt geworden und hat nicht nur in der Welt der Naturwissenschaften, sondern auch im philosophischen und theologischen Bereich endlose Diskussionen ausgelöst, die bis in die Gegenwart herauf andauerten. Sein Hauptwerk „Die Entstehung der Arten“ bzw. „Die Abstammung des Menschen“ im Jahre 1859 hat das bis dahin herrschende Weltbild von der Erschaffung der Pflanzen- und Tierarten sowie des Menschen, laut biblischem Bericht, gleichsam als „Ebenbild Gottes“ und „Krone der Schöpfung“, radikal in Frage gestellt. Deshalb ist es wohl angemessen, sich anlässlich des 200. Geburtstages von Charles Darwin sich dieser folgenschweren Entdeckungen zu erinnern.
Sigmund Freud (1856-1939), der Gründer der Psychoanalyse, hat von „Drei großen Kränkungen“ gesprochen, die der Mensch im Bewusstsein seiner Würde im Laufe der Neuzeit erleiden musste. Der Mensch, der laut dem Genesis-Bericht der Bibel als „Ebenbild Gottes“ und gleichsam als „Krone der Schöpfung“ durch Gottes Schöpferwirken ins Dasein gerufen worden sei, musste durch den 1809 geborenen englischen Naturforscher Charles Darwin bzw. dessen 1859 veröffentlichte „Deszendenztheorie“ (Abstammungslehre) schockartig erfahren, dass er genauso wie alle Arten von Lebewesen, Tiere wie Pflanzen, nicht direkt als Art von Gott erschaffen worden, sondern das Ergebnis einer Jahrmillionen langen Entwicklung aus einer der Affenwelt verwanden Primaten-Art sei.
Bereits der deutsch-polnische Astronom Nikolaus Kopernikus (1473-1543) hatte mit seinem „Kopernikanischen Weltsystem“ die Ablöse des „Aristotelisch-Ptolomäischen“ Weltbildes zu Beginn des 16. Jahrhunderts gelehrt, die Erde stehe nicht im Mittelpunkt des Weltalls, wie bis dahin geglaubt, ja nicht einmal im Mittelpunkt des Sonnensystems, sondern sei einer unter vielen Planten eines der zahllosen Fixsternsysteme. Das war bereits die erste Kränkung des menschlichen Würde-Bewusstseins. Es war eine radikale Verdrängung der Erde aus dem Zentrum an den „Rand“ des Weltalls und damit ein Verlust ihrer „zentralen“ Bedeutung.
Die dritte – und vorläufig letzte – „Kränkung“ der Menschheit hat Sigmund Freud selbst gebracht. Seine Entdeckung des „Unbewussten“ im Menschen hat offenkundig gemacht, dass der Mensch nicht einmal „Herr im eigenen Hause“ sei, d.h. nicht das Ich ist im Menschen die entscheidende Kraft, sondern viel mehr das „ES“, die Triebwelt hat in ihm weitgehend das Sagen und beeinflusst das Handeln des ICH (zusätzlich zum „Über-Ich“).
Also: die Erde ist nicht Mittelpunkt der Welt, der Mensch ist nicht Ebenbild eines Schöpfergottes und das Ich des Individuums ist weitgehend bestimmt vom „ES“. Dies sind die drei „Kränkungen“ des Menschen in der Neuzeit in Folge der naturwissenschaftlichen Entwicklung. Die erste „Kränkung“ durch Kopernikus scheint trotz der „Galilei-Affäre“ nach rund einem halben Jahrtausend beinahe als akzeptiert und scheint das menschliche Würde-Bewusstsein nicht mehr zu schmerzen. Die dritte „Kränkung“ der Menschheit spaltet die Menschen immer noch in Freud-Befürworter und Freud-Gegner. Die zweite „Kränkung“ durch Darwin scheint noch immer nicht ganz überstanden zu sein: konservativ-traditionalistisch religiöse Menschen und die entsprechende theologische Ausrichtung scheinen immer noch, sich in einem Zustand der Verlegenheit und Lähmung zu befinden, obwohl eine fortschrittlich-ajournierte Theologie schon längst darüber zur Tagesordnung übergegangen ist und auf Grund eines modernen Bibelverständnisses die entsprechende Bibelaussage von der Ebenbildlichkeit Gottes mit den Ergebnissen der modernen naturwissenschaftlichen Forschung als durchaus koexistenzfähig erachtet. Die Bibel will ja kein naturwissenschaftliches oder historisches Lehrbuch sein, als das sie früher bisweilen fälschlich gehalten worden ist.
Dennoch tun sich viele, zumal ältere Vertreter der christlichen Lehre schwer, das Faktum der biologischen Evolution, d.h. konkret die Deszendenztheorie Darwins zu akzeptieren, wobei diese in ihrer damaligen Form durch die Fortschritte in der modernen Genetik mittlerweile zum Teil selbst überholt oder zumindest korrigiert und ergänzt wurde. Wer vor 50 und mehr Jahren sich mit katholischer Theologie befasst hat, wurde von den damals Lehrenden vor Darwin wie vor Freud ernstlich gewarnt, sie wurden zu Gegnern und Zerstörern des christlichen Welt- und Menschenbildes bzw. der Würde des Menschen gestempelt. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass Darwin selbst von seinem Studium und seiner akademischen Ausbildung her mehr (anglikanischer) Theologe war als Naturwissenschaftler. Die Ausbildung der Naturwissenschaftler stand zu Darwins Zeit in Cambridge noch als Nebenfach unter der Oberaufsicht der Theologie. Zum weltberühmten modernen Naturwissenschaftler wurde Darwin nicht durch das damals theologisch bevormundete naturwissenschaftliche Studium, sondern durch seine mehrjährige „Beagle“-Forschungsreise und die Praxis seiner lebenslangen Untersuchungen und Beobachtungen. Obwohl Darwin religiös gesehen, später zum Agnostiker wurde, war er nie ein aktiver Gegner der christlichen Religion. Um nicht Aufsehen zu erregen, hat er rund 20 Jahre bis 1859 mit der Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse (Abstammungslehre) zugewartet. Er meinte, dieser Schritt (Entdeckung) sei ihm beinahe wie das „Geständnis eines Mordes“ vorgekommen; dennoch habe er ihn tun müssen, weil er von der Wissenschaftlichkeit seiner Aussage überzeugt war – nicht weniger als einst Galileo Galilei mit seinem angeblichen Wort „eppure si muove“ (und sie bewegt sich doch) gegenüber der kirchlichen Inquisition oder Martin Luthers Geständnis „ich kann nicht anders, so wahr mir Gott helfe“.
Die Lehre, die daraus zu ziehen sein dürfte, ist wohl die, dass auch die obersten Verantwortlichen der Religionsgemeinschaften bzw. der christliche Theologie mitunter bescheidener mit ihren angeblich „gesicherten Wahrheiten“ umgehen sollten.
Heinrich Kofler