Walter Müller im Krankenhaus in Brixen am 20. April, 8 Tage nach dem schrecklichen Eisenbahnunglück; Foto: nade

„Diese Schreie werde ich nie vergessen“

Publiziert in 16 / 2010 - Erschienen am 28. April 2010
Brixen/Göflan – Seine Jacke steckt im hintern Waggon im Schlamm. Sie wird herausgezogen und man findet eine Brieftasche mit einem Personalausweis, lautend auf Walter Müller. Verzweifelt suchen Einsatzleute und Ordnungs­hüter an jenem 12. April im Umkreis des entgleisten Zuges nach dem Besitzer der Jacke: Wo ist er? Lief er im Schockzustand davon? Fiel er vielleicht in die Etsch? Auf der Liste der Verletzten scheint der 54-jährige Göflaner für einige Zeit nicht auf. Zumal sich sein Wohnsitz in Meran befindet, wird auch dort nach ihm gesucht. Vergeblich. Auch in den Krankenhäusern von Meran und Schlanders ist er nicht zu finden. Bange Stunden für die Verwandten von ­Walter Müller. Erst Stunden später stellt sich heraus, dass Walter, der schwere Verletzungen erlitten hat, mit einem Rettungshubschrauber in das Krankenhaus nach Brixen geflogen worden ist. „Ich habe die Schreie der Verletzten noch immer in den Ohren und die Bilder des Unglücks noch immer vor mir. Ich will sie verdrängen, aber sie kehren immer wieder zurück,“ sagte Walter am 20. April, 8 Tage nach der Tragödie, in einem Patientenzimmer der Traumatologie-Abteilung im Brixner Krankenhaus. Zeitungen, in denen Bilder des Unglücks gezeigt werden, kann er noch immer keine ansehen. Während der wenigen Stunden Schlaf, die er findet, kehren die Schreie und Bilder im Traum zurück. „Ihr seid gemein, ihr seid gemein, helft mir, hierher bitte, Hilfe. Hilfe!“ Solche Schreie hörte Walter, nachdem er nach kurzeitiger Bewusstlosigkeit wieder zu sich kam: „Ich wurde plötzlich nach vorne geschleudert und schlug mit dem Kopf irgendwo auf. Als ich wieder zu mir kam, waren der Waggon und die Menschen voll Schlamm. Er herrschte ein fürchterliches Durcheinander.“ Er selbst steckte bis zu den Knien im Schlamm, „aber es kam immer mehr Schlamm. Der Dreck reichte mir bis zum Hals.“ Instinktiv habe er gespürt, dass er seine schwere Jacke, die den Schlamm buchstäblich einsaugte, ausziehen musste. Dies gelang ihm, „auch wenn es fast unmöglich war, denn es war alles schlüpfrig und man fand keinen Halt.“ Walter gelang es, trotz eines schweren Unterschenkelbruchs am rechten Bein, einer schweren Knieverletzung am linken Bein, ­mehrerer Rippenbrüche, Prell­ungen und weiterer Verletz­ungen sich irgendwie mitten im Schlamm bis zur Tür vorzuarbeiten. Es war eine Tür auf der Seite der Etsch hin. „Ich wollte mich aus der Tür hinausfallen lassen, ließ das aber doch bleiben, weil ich Angst hatte, in die Etsch zu fallen.“ Zu einem bestimmten Zeitpunkt habe er das Gefühl gehabt, ganz allein zu sein. Dann sah er, wie Feuerwehrleute Fenster des Waggons einschlugen. Der Zug drohte in die Etsch zu fallen und ­musste gesichert werden. „Ich habe gesehen, wie Feuerwehrleute und Rettungshelfer ihr Leben riskierten, um uns zu helfen“, erinnert sich Walter. Die Bergungsarbeiten wird er ebenso nie vergessen wie die Hilfe, die ihm Vera ­Munker aus Friedberg in Hessen in Deutschland und Walter Di Lenardo aus Schlanders zukommen ließen. Di Lenardo hatte neben Walter Müller gesessen, als das Unglück geschah: „Er hatte mir beim Einsteigen am Bahnhof in Schlanders zugewunken. Ich ging zu ihm und stieg somit im hinteren Waggon ein“, erinnert sich der Göflaner. Vera ­Munker habe ihn mit ihren eigenen Kleidern, die sie im Rucksack hatte, zugedeckt, „denn mir war kalt und ich schlotterte am ganzen Leib.“ Im Krankenhaus Brixen wurde Walter Müller zunächst in die Intensivstation gebracht. Nach einer mehrstündigen Opera­tion an einem Bein kam er in die Traumatologie. Zusätzlich zu den körperlichen Verletzungen setzte und setzt ihm das Unglück auch seelisch zu. Sehr gefreut hat er sich über den Besuch des Bischofs Karl Golser zwei Tage nach der Tragödie. Auch seine Verwandten kamen nach Brixen und Vera Munker. Am 20. April bekam er auch Besuch von Landesrat Richard Theiner. An diesem Tag war er auch deshalb etwas erleichtert, „weil ich morgen ins Krankenhaus nach Meran verlegt werde und somit wieder in die Nähe meiner Heimat komme.“ Walter Müller liegt es am Herzen, den Angehörigen der 9 Todesopfer sein tiefes Beileid auszusprechen. Weiters dankt er allen Einsatzkräften, die am Ort des Unglücks Großes ge­leistet haben. Sein Dank gilt auch dem Arzt Carsten ­Ladiges in Brixen, dem gesamten Ärzteteam und dem Pflegepersonal. „Die Seele fällt in eine dunkle Leere“ Auch einige sehr persönliche Gedanken zum Unfall hat Walter Müller niedergeschrieben: „Ein Unfall dieser Art hat starke Auswirkungen auf die Psyche, er lässt die Seele in eine tiefe, dunkle Leere abstürzen. Man fällt in schwere Depressionen. Wenn man nur mehr von Helfern auf das Klo getragen werden muss, fühlt man sich wertlos. Man fühlt sich wie ein Adler, dem man die Flügel abgeschnitten hat. Es ist unmöglich, die Pläne Gottes für uns Menschen zu begreifen, man kann nachdenken wie viel man will, vielleicht erhalten wir die Antwort in einer anderen Welt? Oft erkennt man erst durch schwere Schicksalsschläge den Wert des gesunden Lebens. In dieser Welt bräuchte es keine Kriege, und kein Hunger müsste Millionen von Menschen dahinraffen, wenn der Mensch nicht so egoistisch und ‚selbstherrlich’ wäre. Es gibt schon durch Naturkata­strophen genug Tote.“ Trost findet Walter in folgendem persischen Sprichwort, das auch Mahatma Gandhi oft zitierte: „Ich weinte, weil ich keine Schuhe hatte, bis ich jemanden traf, der keine Füße hatte.“
Josef Laner
Josef Laner

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