Von der Kunst der Bewegungswahrnehmung
Publiziert in 22 / 2008 - Erschienen am 11. Juni 2008
Schluderns - Man stelle sich zwei Tanzende vor, von denen einer blind ist und sich beim Tanz nur auf die Wahrnehmung, auf das „Einander spüren“ verlassen kann.
„Kinaesthetics“ nennt sich die Wissenschaft der Bewegungswahrnehmung, einer Fähigkeit, die eigene Bewegung im Kontakt mit anderen Menschen so einzusetzen, dass diese in ihrer eigenen Bewegungskompetenz gezielt unterstützt werden.
Die Wirkung von Kinaestetics zeigt sich besonders in der Pflege von Neugeborenen, alten Menschen, Behinderten und Patienten. Sowohl Pflegende als auch die gepflegten Menschen profitieren gleichermaßen von einer größeren Bewegungskompetenz, der Grundvoraussetzung für die Teilnahme am täglichen Leben. Seit 2003 besuchten alle Mitarbeiterinnen der Alten- und Pflegeheime von Laas und Schluderns kontinuierlich Grund- und Aufbaukurse für Kinaestetics, seit 2006 auch gemeinsam mit Freiwilligen, Angehörigen und Kolleginnen aus den umliegenden Heimen und der offenen Hauspflege. Die insgesamt 3840 Fortbildungsstunden der 65 Teilnehmerinnen entsprechen zwei Vollzeitbeschäftigungen eines Jahres und haben 80 000 Euro gekostet.
In einem Informationsabend im Kulturhaus von Schluderns stellte das Konsortium Alten- und Pflegeheime Laas und Schluderns kürzlich die Grundkonzepte der Kinaestetics vor und machte sichtbar, wie Kinaestetics in der Pflege für die Heimbewohner und für das Pflegepersonal angewendet wird. Gleichzeitig wurde den Kursteilnehmerinnen ein Zertifikat überreicht. Sybille Tschenett, die Direktorin des Konsortiums sprach in ihrer Begrüßung von einem Meilenstein, dem noch weitere hinzugesetzt werden sollen. „Im Herbst folgt ein Kurs für „betriebsinterne Anleiter“, die unsere Mitarbeiter in schwierigen Alltagssituationen unterstützen sollen.“
Jakob Reichegger, Berufskrankenpfleger und Kinaestetics-Trainer, führte kurz in die Entwicklungsgeschichte der Kinaestetics ein. Er versuchte, anhand des eingangs erwähnten Beispiels der zwei Tanzenden den Begriff von der Bewegungswahrnehmung bildhaft zu definieren. „Der Pflegeberuf erfährt sehr viel Wertschätzung, da er sehr viele Kompetenzen voraussetzt, wie Professionalität, Menschlichkeit, Spürsinn, Feingefühl, Kreativität und Lernbereitschaft,“ so Reichegger.
Auch das Pflegepersonal konnte über viele positive Erfahrungen und Rückmeldungen von Seiten der Heimbewohner berichten: die Heimbewohner können viel mehr selber tun, als angenommen, sie seien ein Stück eigenständiger und mobiler geworden und fühlen sich mehr im Mittelpunkt, da nicht für sie, sondern mit ihnen etwas „bewegt“ werde. Das Pflegepersonal habe gelernt, sich etwas mehr zurückzunehmen und den Heimbewohnern die Zeit zu lassen, die sie brauchen.
Für das Pflegepersonal selbst sei die Arbeit nicht mehr so anstrengend, weniger kraftaufwändig und schonender in den Bewegungen. Die Zufriedenheit am Arbeitsplatz habe sich erhöht, die Pflege sei professioneller und ideenreicher geworden.
Ingeborg Rainalter Rechenmacher