Im Feuerschein zu Fuß nach Europa
Publiziert in 27 / 2009 - Erschienen am 15. Juli 2009
Mals/Schlinig – Ob es ein Experiment war oder einfach der spektakuläre Einfall der Bike-Schule, weiß man nicht so genau. Es hat auf der Sesvenna-Hütte fast nach Experiment geklungen, als Bike-Navigator Siegi Weissenhorn in seinem Schlusswort meinte: „Diese Wanderung hat gezeigt, dass sich Wanderer und Biker auf derselben Strecke durchaus vertragen können.“ Recht viel über das bekannte Problem nachgedacht werden die 43 Nachtschwärmer nicht mehr haben; vor allem den jüngeren stand um 2 Uhr morgens das Sandmännchen näher als die Lust am Denken. In gut fünf Stunden hatten sie den „schönsten Übergang von der Schweiz nach Südtirol“ – wie Wanderführer Sepp Saurer sich ausdrückte – im Licht der Stirnlampen und Fackeln bewältigt. Weissenhorn und die Bike-Schule „VinschgauBIKE“ hatten zur Vollmond- und Fackel-Wanderung durch die Uina-Schlucht geladen. 18 Radler und 25 Wanderer zwischen Sauerland und Tramin hatten sich darauf hin der Herausforderung gestellt. Zuerst wurden die „Hatscher“ - darunter starke weibliche Präsenz - über Reschen und Norbertshöhe zum Startplatz in Sur En gebracht. Auf der 1.112 Meter hoch gelegenen Fraktion der Engadiner Gemeinde Sent am Ausgang des Uina-Tales begann die Nacht-Wanderung. Bereits auf der Fahrt hatte Wanderführer Sepp Saurer alle möglichen Informationen geliefert über den Schmuggelalltal in früheren Zeiten, über die Geschichte der ehemaligen Pforzheimer-Hütte und vor allem über die Hintergründe des abenteuerlichen Felspfades, der seit 1910 durch die Uina-Schlucht führt.
„Die Natur isch g’walti“
Gemessenen Schrittes, aber voller Erwartungen marschierte die Kolonne an der rauschenden Ova Uina, am Wildbach Uina, entlang. Sepp Saurer musste alle Tricks anwenden, um seine eifrigen Anhänger zum Rasten zu zwingen. Zu stark war der Drang zum „ultimativen Abenteuer“. Am einfachsten war es, eine kleine Geschichte oder einen Witz vom Stapel zu lassen. Die erste Tee-Pause war an der schon 1475 erwähnten Sommersiedlung Uina Dadora fällig. Inzwischen hatte die Wolkendecke aufgerissen; im Westen hatte sich der Horizont glühend gelb gefärbt und eine Malser Teilnehmerin ausrufen lassen: „Die Natur isch einfach g’walti“. Lange vor dem „Mitterloch“ auf den „Mahdern“ (Mähwiesen), dem früheren Übergang für die Bauernburschen aus Burgeis, Schlinig und Planeil, hatten die Biker das Fußvolk schon überholt. Die ersten waren vorbei gerauscht, die anderen vorbei gestrampelt. Sie waren längst in der Lichterkette untergetaucht, die Martin Gruber und Walter Rinner aus Goldrain in der Schlucht entzündet hatten. In waghalsiger Fahrt hatten sie die Fackeln in den Abgrund gebracht und sie an den Felswänden oder in den Resten der Schneelawinen befestigt. Nach dem Hof Uina Dadaint auf 1.781 Metern machten sich die Wanderer „schlucht-tauglich“. Während sich Sepp Saurer umsichtig der Nachhut widmete, wurden die aus routinierten Gehern bestehenden „Vorderleute“ bereits mit urzeitlichen Didgeridoo-Melodien und Trommelklängen überrascht.
„Indogermanen“ in der Uina-Schlucht
Sepp Saurer wird die exotisch bemalten „Urzeitmusiker“ Andreas Punter und Adrian Wegmann aus Schluderns später „die Indogermanen“ nennen. Es war wirklich urzeitlich, was da bei flackerndem Feuer aus Höhlen und Stollen dröhnte und sich mit dem Rauschen des Sturzbachs vermischte. Aufmerksam verfolgten indes Giordano Gentilini und Kurt Thanei vom Bergrettungsdient Mals das Geschehen und begleiteten die Teilnehmer bis auf die Hochebene. Es war nicht ganz die Vollmondnacht, die angekündigt war, aber die Wegspuren ließen sich auch ohne Stirnlampen auf den Matten und Mooren zwischen Schweizer Grenze und Sesvenna Hütte (2.256 m ü.d.M) erkennen. An kritischen Stellen wiesen wieder Fackeln den Weg; trotzdem musste der eine oder andere „Tapper“ ins kalte Wasser hingenommen werden. Fackeln waren es auch, die beim nächtlichen Schaupiel vor der Hütte die Hauptrolle spielten. Franziska Gander und Stefan Halmer aus Prad spuckten Flammen in die Nacht und zauberten Feuerräder in die auffrischende Luft. Für einige Minuten waren Müdigkeit und Schlafschuld vergessen und der einstündige Marsch über die Schliniger Alm zum Shuttle-Bus verdrängt.
Günther Schöpf