Abhängig, aber nicht ausgeliefert
Der Gewerkschafter Hans Rungg über Arbeiter*innen in Corona-Zeiten
VINSCHGAU - Der aus Prad stammende Hans Rungg ist seit über 40 Jahren Gewerkschafter, war Bezirkssekretär im Vinschgau und ist derzeit Landessekretär ASGB Gebietskörperschaften. Darunter zu verstehen sind die Bediensteten der Gemeinden, der Bezirksgemeinschaften, Seniorenheime, Sozialgenossenschaften und der Region.
der Vinschger: Man weiß, wie es dem HGV geht, dem hds und den Unternehmern im Wirtschaftsring, aber man weiß wenig, wie schwer der erste Lockdown die Arbeiterinnen und Arbeiter getroffen hat.
Hans Rungg: Was sich eigentlich niemand gedacht hätte: Buchstäblich von einem Tag auf den anderen stand fast alles still. Ein Großteil der Arbeiter und Arbeiterinnen hatte zu Hause zu sitzen und musste sich fragen: Bekomme ich noch meinen Lohn, wie viel bekomme ich und wann bekomme ich ihn? Viele glaubten, in wenigen Wochen würde der Spuk vorbei sein. Kindergärtenköchinnen und Reinigungspersonal im öffentlichen Dienst, Saisonsbedienstete, Mitarbeiter*innen in Industrie, Handwerk und im Handel Arbeitende in Dienstleistungen wie Friseursalons waren plötzlich ohne Arbeit. Die Auswirkungen waren unterschiedlich. Es gab solche, die zu Hause bleiben mussten und nicht wussten, ob sie am Ende des Monats ihren Lohn weiterhin bekommen. Andere gingen in die Arbeitslosigkeit. Wieder andere kamen in den Lohnausgleich und sind es teilweise bis heute. Manche erhielten ein Übergangsgeld. In Altenheimen wurde gezittert und geschuftet, teilweise auch freiwillig. Offen blieben vor allem die Geschäfte im Nahrungsmittelbereich.
Gibt es Zahlen über den Verlust von Arbeitsplätzen oder haben sich alle in den Lohnausgleich gerettet?
Die Anzahl der Arbeitssuchenden beläuft sich für das zweite Quartal 2020 in Südtirol auf 10.100 Personen; dies entspricht einem Anstieg um 1.300 Personen gegenüber dem gleichen Quartal des Vorjahres. Die Arbeitslosenquote steigt damit auf vier Prozent (siehe beigefügte Tabelle der ASTAT). Beispielsweise hat allein der Soziale Beratungsring, das Patronat des ASGB, im März in einer Woche 2.500 Arbeitslosengesuche bearbeitet und verfasst. Menschen mit befristeten und saisonalen Verträgen wurden und werden arbeitslos, andere waren und sind im Lohnausgleich und warten teilweise immer noch zumindest auf einen Teil dieser Gelder. Für viele sind es brutto ca. 900 Euro pro Monat, die übrigens im nächsten Jahr zu versteuern sind.
Welche Branchen haben damals besonders gelitten, welche leiden wieder?
Gelitten haben ziemlich alle Branchen, vom Handel bis zur Industrie, besonders die Dienstleistungen, aber auch die Landwirtschaft. Derzeit vielleicht weniger das Handwerk und die Industrie. Besondere Schwierigkeiten haben und hatten Arbeitnehmer*innen in Kleinbetrieben unter fünf Beschäftigten. Während größere Betriebe oft den Lohnausgleich vorstreckten, langte es bei diesen manchmal nur für die Vorauszahlung des 13. oder auch 14. Monatslohns.
Wie lange reichen die staatlichen Hilfen und die Unterstützungen des Landes als Überbrückung aus?
Die Hilfen, für die, die darauf angewiesen sind, reichen natürlich nicht aus, um den Lebensstandard zu halten. Im Gegenteil, man muss sich sehr einschränken. Nicht zu vergessen, es gibt auch Lohnausfälle, wenn man zu Hause bei Kleinkindern bleiben muss. Diese Zeit wird nur zu 50% entlohnt.
Wie ist die derzeitige Lage bezüglich Arbeitslosengeld?
Viele warten noch auf Auszahlungen von Arbeitslosengeld oder Lohnausgleich. Sehr oft, weil alles kompliziert ist, weil es Verlängerungen gab, weil aufklärende und interpretierende INPS-Rundschreiben zu warten war und weil für viele Arbeitgeber das Ganze auch neu war.
Haben die Arbeiter*innen überhaupt das Geld, um heuer Weihnachtsgeschenke zu kaufen?
Geld für Weihnachtseinkäufe ist sicher rar, rarer als in den letzten Jahren. Vor allem Kindern möchte man eine Freude machen. Darum werden sich die Leute auch dieses Jahr bemühen. Da ist es sicher wichtig, dass auch die Preisgestaltung stimmt. Da wären wir wieder beim häufig wiederkehrenden Thema: Während die Inflation in Italien sinkt, steigt sie bei uns. Das ist sicher schlecht und motiviert zum Einkauf in der Ferne.
Also sollten endlich auch die Löhne steigen.
Die Lohnerhöhungen hängen zum Teil von der Erneuerung der Kollektivverträge ab und die werden in Rom gemacht. Hierzulande gibt es ergänzende Landes- oder Betriebsabkommen, aber auch individuelle Verträge, also ausgehandelt direkt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Im öffentlichen Dienst - diese Kollektivverträge werden in Südtirol abgeschlossen - ist es gelungen, sie weitestgehend zu erneuern. Es stehen allerdings die Bereichsverträge aus, die dafür sorgen sollen, dass etwa das Personal im Gesundheitswesen und im Sozialbereich endlich gerechter und ihrem Wert gemäß besser bezahlt wird.
Welche Entwicklungen stehen 2021 ins Haus? Was können Lohnabhängige erwarten? Wird es nach der Auflassung des Kündigungsschutzes massenhaft Entlassungen geben?
Der Kündigungsschutz gilt bis Ende März 2021. Wenn es Perspektiven für ein Ende der Pandemie und ihrer Folgen gibt, dann wird es zwar zu Entlassungen kommen, sie dürften sich aber in Grenzen halten. Bleibt die Pandemie weiterhin außer Kontrolle, könnte es eine Verlängerung geben oder große Arbeitsplatzverluste.
Gibt es für Arbeiter*innen überhaupt noch einen Grund, optimistisch zu bleiben?
Nun, es gibt sicher einen massiven Einbruch. Geld gibt es weniger auszugeben, aber es wird Arbeit entstehen. Es stehen viele Pensionierungen bevor. Im Gesundheits- und Sozialbereich braucht es mehr Mitarbeiter*innen. In der Landwirtschaft und im Tourismus hat man tausende Menschen aus dem Ausland geholt. Nun geht es darum, Einheimische zu gewinnen und ihnen Perspektiven zu bieten. Arbeiterinnen und Arbeiter mit Qualifikationen werden in vielen Branchen gesucht. Die Chancen, einen Arbeitsplatz zu bekommen, sind groß. Es ist aber Engagement gefragt. Wille und Bereitschaft, sich umzustellen und zu lernen, sind gefragt. Man darf optimistisch sein.
Ist das Wirtschaftssystem nicht zu sehr von der Tourismusbranche abhängig? Was muss sich im Tourismusland Südtirol tun, damit die Abhängigkeit wenigstens zum Teil vermindert wird?
In einem Wirtschaftssystem tut Ausgleich immer gut. Abhängigkeiten sind ein Risiko. Allerdings hat es diesmal so ziemlich alle Bereiche getroffen, den Tourismus nach Jahren des Aufschwungs erstmals sehr kräftig. Das wirkt sich natürlich auch auf andere Bereiche aus, etwa auf das Bauwesen, das sich erst letzthin aus der Krise von 2008/2009 erholte. Letzteres wird es wahrscheinlich erst nächstes Jahr verstärkt merken. Wobei wir in Südtirol bisher von Krisen verhältnismäßig wenig spürten. Wir müssen festlegen, was wichtig ist. Südtirol ist nun mal ein Tourismusland, aber der Markt muss diszipliniert werden von einem starken Sozialstaat. Die Pandemie hält uns vor Augen, was Sparmaßnahmen im Sozialbereich und im Gesundheitswesen bewirken. Gewisse Bereiche sind halt „systemrelevant“. Die Ausgaben der öffentlichen Hand, auch in der Krise, müssen zielgerechter werden, sie mit der Gießkanne zu machen, ist fatal. Nur Lobbyismus ist zu wenig, Engagement, Zusammenhalt und Solidarität müssen in den Vordergrund treten. Warum nicht etwas weniger schimpfen, aber sich mehr in Vereinen, Verbänden und auch in der Politik einbringen?