Der Isembart
Der Pomologe Martin Engelhardt, Johanna Platzgummer und Benedikta Zwerger vom Collegium Pomologicum Südtirol spüren alte Obstbäume auf. Anfang Juli waren sie im Vinschgau unterwegs.
Schlanders/Laatsch - Sie schauen über Mauern und in Gärten, richten den Blick nach oben, klopfen an Türen und hoffen, dass die Hausherrin oder der Bewohner über dieses oder jenes Exemplar eines alten Birn- oder Apfelbaumes erzählen kann: der Botaniker Martin Engelhardt beschäftigt sich mit der Geschichte des Obstbaus im südlichen Tirol. Und nicht selten hatte das Team vom Collegium Pomologicum Glück: Von der in Schlanders vorkommenden Grauen Herbstbutterbirne, auch Isembart genannt, wusste 2020 die inzwischen verstorbene Rosa Wieser vom Haus Oberschmied, dass ihr Großvater den Baum 1907 von der Baumschule Gamper in Schlanders gekauft und gepflanzt hat. „Diese Sorte wurde 1628 im Verzeichnis Le Lectier unter dem Namen Beurrée ou ysambert erstmalig beschrieben“, berichtet Martin Engelhardt, „1908 wurde die Sorte auf der Obstsortenausstellung in Schlanders gezeigt “. Die Familie nutzte sie als Tafelbirne, für Kompott und Obstkuchen; der Baum überlebte sogar einen Brand. Von der Baumschule des Kartäuserklosters in Vauvert (Paris) wurde diese Birnensorte im 18. Jahrhundert in ganz Europa verbreitet: beliebt war sie vor allem wegen ihres Geschmacks. Ihre Anforderungen an Luftzug, Wärme und Bodenfeuchtigkeit sind hoch; im 19. Jahrhundert geriet sie in Vergessenheit. Weniger so im Vinschgau, wo sie noch 1900 herum aufgrund des günstigen Standortes angebaut wurde. Der wissenschaftliche Leiter des Collegium Pomologicum bescheinigt dem Birnbaum trotz seines Alters exzellente Gesundheit und: „Es handelt sich bei diesem Baum um eine kulturhistorische Rarität – diese Sorte ist selten und gefährdet“.
Die bäuerliche Südtiroler Obstbaukultur – vor über 100 Jahren
Engelhardts Interesse gilt vor allem dem bäuerlichen Obstanbau bis zum Ende des ersten Weltkrieges. Wie gestaltete er sich vor dem industriellen Anbau? Während von den Gärten der Fürsten- und Königshäuer oder der Bischofsresidenzen etliches überliefert wurde, auch, weil eine große Sortenvielfalt als Statussymbol galt – hier sind die über 300 Birnensorten am Hof von Versailles zu erwähnen – gestaltet sich die Suche nach der bäuerlichen Obstbaukultur schwieriger. Und deswegen lugt er über Gartenzäune, erforscht Gebiete nach den Überresten ehemaliger Streuobstwiesen; die Forschungsergebnisse wird er am 15. November 2022 in der Urania Meran vorstellen. Das Team war bereits am Ritten unterwegs, in Jenesien, im Eisacktal, in Verdings, Kastelruth und in Völs am Schlern.
Gute Lagerfähigkeit war das Um und Auf
Neben den Palabirnen in Laatsch, denen der Botaniker die unterschiedlichsten Pflege- und Gesundheitszustände bescheinigt, traf das Trio auf einen viel erstaunlicheren, weil selteneren Fund: eine Vereinsdechantsbirne. „Sie war eine geschätzte Tafelbirne mit viel Anspruch an Sonne und Wärme“. Die Bäume auf dem bäuerlichen Grund mussten so viel Ertrag haben, dass er für zwei Jahre und die ganze Familie reichen würde – nie konnte man wissen, ob es nicht eine Saison ohne Ertrag geben würde. Das Obst musste vor allem gut lagern können; es sollte in unterschiedlichen Zeiten reif sein, viel wurde gedörrt, verkocht und gekocht – zu letztem bietet Benedikta Zwerger im Dezember in der Meraner Urania einen Kurs – und je nach Region unterschiedlich verarbeitet.
Nutzen der Streuobstwiesen aktueller denn je
Die Mitglieder des Collegium Pomologicum wollen „den Bäumen ihre Würde zurückgeben“, historisch wichtige Sorten erhalten und sie im kulturellen Bewusstsein verankern. Sie setzten darauf, dass mit breiterem Wissen auch mehr Bäume nachgesetzt werden. Denn das geschehe kaum. Dabei ist ein Birnbaum ein Lebensraum für unterschiedliche Insekten, Vögel und kleine Säugetiere – konsequenter Artenschutz über Jahrhunderte hinweg. „Früher waren die großen Obstbäume für jede einzelne bäuerliche Familie unerlässlich. In Mitteleuropa sind Streuobstwiesen jene Flächen, die die größte Biodiversität aufweisen. Und deswegen sind Streuobstwiesen heute genauso lebensnotwendig“, sagt Engelhardt. „Der Ressourceneinsatz und die Anlagekosten von industriell bewirtschafteten Wiesen fällt weg – eine Streuobstwiese ist Klimaschutz, Artenschutz, Naturschutz. Nachhaltigkeit, das bedeutet auch, unseren Kindern vielfältigen, gesunden Lebensraum für Mensch, Tier und Pflanzen zurückzulassen. Dass man auf große Ernten bei jungen Birnbäumen rund fünfzehn bis 20 Jahre warten muss, ist klar. Dafür haben etliche nachkommende Generationen immense Vorteile von einem gut gepflegten Baum – denn Birnbäume können 400 Jahre alt werden“. „Wer Nachhaltigkeit ernst meint“, ergänzt Johanna Platzgummer, „sollte dementsprechend handeln“. Martin Engelhardt wird der Geschichte der bäuerlichen Obstbaukultur weiter nachspüren. Die Zukunft betreffend, sagt er, möge man an folgendes denken: „Der beste Zeitpunkt, einen Baum zu pflanzen, war vor 20 Jahren. Der zweitbeste ist jetzt!“.
