„Die Fremmen“ im Vinschgau
Sie wurden zu Gästen. Über den Tourismus und die damalige „Goldgräberstimmung“.
SCHLANDERS - Die Gegenwart kann man nur verstehen, wenn man die Vergangenheit kennt, die Zukunft kann man nur planen, wenn man die Gegenwart versteht, erklärte Paul Rösch die Intention eines Forschungsprojektes des Landesmuseums für Tourismus (Touriseum). Der Tourismushistoriker und ehemalige Meraner Bürgermeister leitet gemeinsam mit dem Journalisten Patrick Rina das Projekt, welches das Ziel hat, Südtirols Tourismusgeschichte zwischen 1961 und 1983 zu beleuchten. Die Ergebnisse der Recherchen werden in einem Buch veröffentlicht. Im Rahmen der Veranstaltung „Touriseum on Tour“ stand dazu am 26. März ein Diskussionsabend mit Zeitzeugen in der Mittelpunktbibliothek Schlandersburg auf dem Programm. Die Ausstellung im Eingangsbereich der Bibliothek ist noch bis zum 20. April für die Öffentlichkeit zugänglich.
Den Zeitraum zwischen 1961 und 1983 habe man daher gewählt, da dieser für den Tourismus in Südtirol maßgeblich gewesen sei, so Rösch und Rina. Historisch betrachtet seien dabei 2 Eckdaten zu unterstreichen: Die Zeit der Bombenjahre, mit der Feuernacht im Sommer 1961 und 1983, als sich der Schnalser Skigebiet-Pionier Leo Gurschler, der die 1975 eröffnete Gletscherbahn gebaut hatte, das Leben nahm. Ab Beginn der 1960er Jahre habe sich der Tourismus rasant entwickelt. „Mit einer Intensität, die uns bis heute prägt“, betonte Rösch. Kamen 1960 noch etwa 700.000 Gäste nach Südtirol, sind es heute rund 8 Millionen. 2023 wurden über 36 Millionen Nächtigungen generiert. Am Beispiel der Nächtigungen wird auch der Boom zu jener Zeit deutlich: Schenna etwa hatte 1960 knapp 10.000 Übernachtungen, vier Jahre später bereits rund 100.000, Anfang der 1970er Jahre 450.000 und heute rund eine Million. Rösch mahnte, nicht nur den wirtschaftlichen Aspekt der Tourismusentwicklung zu sehen. Dieser sei nur ein Teil von dem, was der Tourismus mit Südtirol machte. „Wir waren zu jener Zeit sehr arm. Plötzlich gab es Menschen, die zu uns gekommen sind. Der Tourismus öffnete das Land, er war auch ein Emanzipationsschub“, so Rösch. Scheuklappen seien gefallen, die Menschen plötzlich zu Geld und Arbeit gekommen, ohne ins Ausland gehen zu müssen. Auch die Frauen konnten ihr eigenes Einkommen erwirtschaften. Nicht zuletzt habe der Tourismus wichtige Arbeit für die Autonomie geleistet und auf Südtirol und die Südtiroler sozusagen aufmerksam gemacht.
Ein historisches Göflaner Büchlein
Daran erinnerte auch ein Eintrag aus dem Gäste-Büchlein, welches der heute 96-jährige Göflaner Oswald Astfäller zur Verfügung stellte. Astfäller, der schon damals einen Tischlereibetrieb hatte, war einer der ersten in der Gemeinde Schlanders, der Zimmer mit Frühstück anbot. Das war im Jahre 1959. „Es war eine einfache Zimmervermietung“, blickte Astfäller im Gespräch mit dem
der Vinschger auf seine „Tourismustätigkeit“ in Göflan zurück. Bis Anfang der 1970er Jahre war er in diesem Bereich tätig. Ein Gästebuch-Eintrag aus dem September 1961 erinnerte an die Bombenjahre. Ein deutsches Ehepaar schrieb darin: „Wir wünschen den Südtirolern alles Gute. Möge eine für alle Seiten befriedigende Lösung gefunden werde“.
Astfäller, der im Publikum saß, war der älteste der Zeitzeugen der damaligen Jahre. Am Podium als Zeitzeugen aktiv mitgewirkt haben im Rahmen des Diskussionsabends hingegen Franz Angerer, Gianni Bodini, Thomas Rinner und Hans Staffler. Staffler, der lange in der Tourismusbranche gearbeitet hatte, berichtete, von der „Goldgräberstimmung“ zur damaligen Zeit. Die Ansprüche der Gäste damals, die hauptsächlich aus dem süddeutschen Raum kamen, seien gering gewesen. „Der Gast war eine heilige Kuh“, so Staffler. „Prostituiert“ habe man sich nicht, aber auf alle Fälle „sehr um den Gast bemüht“. Rinner, 1959 geboren, war dabei, als sein Vater in den 1970er Jahren das Camping Latsch errichtete. Im Juni 1974 kamen die ersten Touristen. „In den Augen der Bevölkerung und anderer Touristiker waren das Zigeuner“, erinnerte sich Rinner. Aus den Zigeunern wurden Gäste, auch der Campingtourismus erlebte einen Aufschwung. Angerer, Hotelierssohn aus Sulden, erinnerte daran, dass in Sulden alles noch früher begonnen habe. Teils schon Ende der 1890er. In den 1950er Jahren habe in Sulden und Umgebung bereits der Skitourismus Fahrt aufgenommen, auch der erste Lift wurde in Trafoi gebaut. Ende der 1950er gab es die ersten Sessellifte in Sulden. Mit den „Nachbarn“ wurde zusammengearbeitet, im Ortlergebiet habe es damals bereits gut funktionierende Busverbindungen nach Val Müstair und St. Moritz sowie nach Sondrio gegeben. Mit dem Titel der Veranstaltung und dem Begriff „Fremme“ konnte Angerer wenig anfangen. „Ich bin eigentlich immer mit dem Begriff Gäste aufgewachsen“, betonte er. Gianni Bodini, der als Angestellter in der Branche arbeitete und heute noch Gäste durch den Vinschgau führt, zeigte sich als kritischer Geist. Der Tourismus habe ohne Zweifel Wohlstand gebracht, „aber irgendwann ist genug“, so Bodini. Man müsse auch mal zufrieden sein.
Der HGV-Chef ergreift das Wort
HGV-Präsident Manfred Pinzger, als Zuhörer mit dabei, ergriff schließlich in der Diskussionsrunde das Wort: „Ich empfinde es, wie hier größtenteils dargestellt. Am Tourismus gibt es kaum etwas Negatives“. Dass ein bestimmtes Level erreicht wurde, möge zwar stimmen, aber mit dem Bettenstopp habe die Politik für klare Regeln gesorgt. Spreche man vom Vinschgau, dann könne man ohnehin nicht von „Overtourism“ reden. Dies sei am Beispiel von Schlanders ersichtlich, wo es früher einmal 2.000 Beten gab, mittlerweile aber nur mehr 1.200.
Der Verkehr hingegen sei hausgemacht. „Vielleicht gibt es in ganz Südtirol einige wenige, die maßlos übertreiben. Aber man kann doch nicht alle in einen Topf werden. Größtenteils gibt es hier kleine, tüchtige Familienbetriebe. Ich habe das Gefühl, das zu sehr auf unseren Sektor eingeschlagen wird“, fand Pinzger klare Worte. Insbesondere ein Teil der Presselandschaft habe Anteil an der negativen Stimmungsmache, kritisierte er scharf.
