„Gesellschaftspolitisch hochbrisantes Problem“
Martell - Mit bemerkenswerten Gedanken zum Sinn von Segnungen und Riten, zur zunehmenden Entfremdung des Menschen von der Natur, zum Auseinanderdriften des Landes in drei „Kleinplaneten“ und zu Problemen und Gefahren im heutigen Südtirol insgesamt überraschte der „Stallwieser Pfarrer“ Josef Stricker kürzlich bei der Eröffnung des neuen Viehtrieb- und Themenweges auf die Soyalm in Martell (siehe der Vinschger Nr. 11/2023). „Die Menschen brauchen Schutz und suchen Schutz.“ Das ist Strickers Antwort auf die Frage, welchen Sinn eine Segnung überhaupt hat. Trotz aller technischen Fortschritte und Neuerungen ist die Schutzbedürftigkeit, in der Stricker eine der Konstanten in der Geschichte der Menschheit sieht, geblieben: „Der Mensch braucht Schutz für sich selbst, für das Vieh, für Hab und Gut.“ Der Mensch könne und wisse zwar sehr viel, „wir machen aber auch die Erfahrung, dass wir viele Dinge nicht beherrschen, nie beherrschen werden.“ Das habe uns die Pandemie vor Augen geführt. Der Segen will laut Stricker ausdrücken, „dass wir auf Kräfte angewiesen sind, die größer sind als wir.“ Dies habe nichts mit Magie zu tun, sondern sei Ausdruck eines Glaubens, „der von der Überzeugung getragen ist: wir brauchen Schutz.“ In unserer säkularisierten, hoch technisierten Welt sei es für viele einfach, nicht zu glauben. Aber vor der Gebirgsnatur mit all ihren Gefahren können sich die Menschen nicht so schützen, wie es notwendig wäre. In Südtirol gebe es laut dem früheren geistlichen Assistenten des KVW ein immer stärkeres Gefälle zwischen Städten und stadtnahen Dörfern, der Talsohle sowie den Seitentälern und Berghängen. Südtirols Berggebiete seien Lebens-, Wirtschafts- und Kulturraum: „Das Leben in den Seitentälern und Berghängen war nie leicht, aber die Menschen dort haben Pionierarbeit geleistet. Es waren die Menschen am Berg, dir durch harte Arbeit in vielen Generationen Kulturlandschaft und Artenvielfalt in den Tälern und an den Berghängen geschaffen haben.“ Sie hätten die Landschaft für die Menschen hergerichtet, gepflegt und bewohnbar gemacht. Stricker hat den Eindruck, dass die drei „Kleinplaneten“ - Städte und stadtnahe Dörfer, Talsohle sowie Seitentäler und Berghänge – im heutigen Südtirol immer weiter auseinanderdriften und dass unser Land daher vor einem hochbrisanten gesellschaftspolitischen Problem stehe. Ein Gutteil der Probleme, die wir heute haben, kommt davon her, dass wie die Lebenswelt der jeweils anderen nicht mehr kennen, und uns auch nicht bemühen, sie kennenzulernen: „Wir denken und argumentieren viel zu viel in Schablonen. Wer den anderen verstehen will, muss dessen Lebenswelt nachempfinden können.“ Karl Marx habe im 19. Jahrhundert für diese Zustände den Begriff Entfremdung geprägt und wollte damit eine Arbeit beschreiben, bei der die Menschen nur noch kleine Rädchen im Getriebe sind. Wenn sich Menschen von der Natur und von der Tierwelt entfremden, hat das laut Stricker unterschiedliche Gründe: „Sie entfremden sich, weil sie Städter sind, weil sie mit Ausnahme von Hund und Katze keinen Bezug zu Haustieren mehr haben, weil sie ein städtisch geprägtes Verständnis von Naturschutz, Artenvielfalt und Biodiversität haben, weil aus Tierschutz Ideologie gemacht wird und weil sie sich in einer virtuellen Welt bewegen, die es gar nicht gibt.“