„Großteil der Bevölkerung ist sehr diszipliniert“
Dieter Pinggera: „Fallzahlen im Vinschgau sind Gott sei Dank niedrig.“ Stationäre Sozialeinrichtungen sollen teilweise hochgefahren werden. Lob für das Ehrenamt.
Vinschgau/Schlanders - „Vergleicht man unsere Zahlen der Infizierten und jener Personen, die in verordneter Quarantäne leben müssen, mit den Fallzahlen anderer Gebiete in Südtirol, scheint der Vinschgau tatsächlich und Gott sei Dank eine Insel der Seligen zu sein. Wir hoffen natürlich alle, dass das auch in Zukunft so bleiben wird“, sagte der Schlanderser Bürgermeister am Wochenende in einem Interview mit dem der Vinschger.
der Vinschger: Warum sind die Fallzahlen im Vinschgau im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ niedrig?
Dieter Pinggera: Das hängt einerseits wohl damit zusammen, dass wir weitgehend ein ländliches Gebiet sind, in dem es keine großen Ballungszentren gibt. Zum anderen sind wir von Infektionsherden, wie sie sich zum Beispiel in Altersheimen in anderen Südtiroler Gemeinden gebildet haben, bis jetzt Gott sei Dank verschont geblieben.
Gibt es keine positiv getesteten Bewohner in den Wohn- und Pflegeheimen im Vinschgau?
Bis jetzt Gott sei Dank nicht. Mir sind jedenfalls keine Fälle bekannt.
Warum konnte das Coronavirus von den Altersheimen ferngehalten werden?
Da sind einerseits die große Disziplin, die frühzeitige Abriegelung der Heime, die strikte Einhaltung der Vorgaben und auch der Fleiß der Führungskräfte und der Mitarbeiterteams zu nennen. Andererseits muss man auch zugeben, dass wir schlicht und einfach Glück gehabt haben, denn dieses Virus könnte sich theoretisch auch bei noch so strengen Vorkehrungen irgendwie einschleichen.
Breit angelegte Tests quer durch die Bevölkerung gibt es nach wie vor nicht. Kann es sein, dass wir auch im Vinschgau eine hohe Dunkelziffer haben?
Ausgehend von den bisherigen Fallzahlen im Vinschgau wage ich schon anzunehmen, dass auch die Dunkelziffer relativ bescheiden sein dürfte.
Wie bewerten Sie und Ihre Amtskollegen im Tal die allgemeine Disziplin der Bevölkerung bei der Einhaltung der Einschränkungen und der anderen Covid-19-Vorgaben?
Bei den Sitzungen des Bezirksausschusses, zu denen wir auch während der Corona-Zeiten mehr oder weniger regelmäßig zusammenkommen, sprich alle zwei Wochen, wurde schon mehrfach festgestellt, dass der Großteil der Vinschgerinnen und Vinschger die Einschränkungen sehr ernst nimmt, sich verantwortungsbewusst an die Regeln hält und viel Verständnis dafür aufbringt. Einige schwarze Schafe gibt es natürlich immer.
Nach über einem Monat schien das Verständnis aber so langsam zu kippen.
Natürlich ist die Akzeptanz für die Einhaltung der Regeln nach so langer Zeit etwas geschrumpft. Besonders schwer fiel es vielen Menschen, keine längeren Spaziergänge in der freien Natur machen zu können. Je länger die strikte Ausgangssperre dauerte und je schöner das Wetter wurde, umso mehr stieg die Ungeduld.
Mit der Verordnung, die der Landeshauptmann Arno Kompatscher am Ostermontag unterschrieben hat, haben sich die Dinge nun doch geändert.
Ja, mit dieser Verordnung ist es gelungen, dem dringenden Bedürfnis vieler Menschen zu entsprechen. Man darf jetzt wieder ausgiebig Spazieren gehen. Auch andere körperliche Aktivitäten zu Fuß sind erlaubt, auf dem gesamten Gemeindegebiet und sogar über die Gemeindegrenzen hinweg. Das Ansteckungsrisiko wird gleichzeitig in Grenzen gehalten, denn es ist ein Abstand von mindestens 3 Metern einzuhalten und auch ein Mundschutz ist mitzuführen, um ihn beim Zusammentreffen mit anderen Personen verwenden zu können. Das Radfahren ist allerdings nur erlaubt, wenn man mit dem Rad zum Einkaufen, zur Arbeit oder zu Arztbesuchen fährt.
In anderen Gebieten des Staates herrschen diesbezüglich weiterhin viel strengere Vorgaben.
Im Zusammenhang mit der Verordnung vom Ostermontag wurde klar und unmissverständlich unterstrichen, dass der Landeshauptmann in Zeiten epidemiologischer Notstände als Verantwortlicher für den Bevölkerungsschutz auch als Sonderkommissär (Commissario Straordinario) fungiert und dass in Südtirol daher die Verordnungen des Landeshauptmannes vor jeder anderen Bestimmung zur Anwendung kommen müssen.
Wie sehen Sie Wirtschaft im Vinschgau in der Zeit nach Corona?
Für die Wirtschaft hat die Corona-Krise mit Sicherheit fatale Folgen. Denken wir nur an den Tourismus, den Handel, das Gastgewerbe und das Handwerk. Es hat zwar bereits erste zaghafte Lockerungen in bestimmten Wirtschaftszweigen gegeben, doch die Wirtschaft wird noch lange mit den Nachwehen der Corona-Krise zu kämpfen haben. Die kurz-, mittel- und langfristigen Folgen kann derzeit wohl noch niemand genau abschätzen. Jetzt heißt es zunächst abwarten, wie das Regelwerk des Landes für den Neustart der Wirtschaft genau ausfallen wird.
Besonders hart getroffen hat die Krise auch viele sozial schwache Menschen. Psychisch kranke Personen zum Beispiel, Menschen mit Beeinträchtigungen, aber auch ältere Personen, die allein leben und auf den Hauspflegedienst angewiesen sind. Sie sind auch Vizepräsident der Bezirksgemeinschaft und im Bezirksausschuss für den Bereich Soziales zuständig. Wie ist die derzeitige Situation im Tal?
Schon zu Beginn der Krise haben die Bezirksgemeinschaften landesweit beschlossen, stationäre und teilstationäre Einrichtungen zu schließen. Der Hauspflegdienst wurde zwar nicht vollständig heruntergefahren, aber auf das Notwendigste reduziert. Ohne dieses Mindestangebot wären einige Personen buchstäblich verwahrlost. Durch die Schließung von Einrichtungen für psychisch kranke Menschen haben einige betreute Personen den Halt verloren. Sie mussten bzw. müssen immer noch über Telefon bzw. aus einer bestimmten Distanz notdürftig betreut werden. So gut es eben geht. Auch die zeitweilige Schließung von Einrichtungen und Werkstätten, in denen Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen betreut werden, ist für viele Betroffene und deren Familien zum Teil ziemlich problematisch. Wir haben in der vergangenen Woche mit den Verantwortlichen der Einrichtungen und Strukturen vereinbart, zu Beginn der nächsten Woche die Angebote und Dienste in einem ersten Schritt im Rahmen der „Phase zwei“ ein bisschen hochzufahren, um auch in den stationären Einrichtungen bestimmte Kerndienste anbieten zu können. Leicht wird das nicht, vor allem auch deshalb nicht, weil die Betroffenen in der Regel mit Fahrzeugen zu den Strukturen gebracht und von dort wieder abgeholt werden müssen.
Nicht wenige Menschen haben aufgrund der Corona-Krise materielle und seelische Nöte. Hält das soziale Netz?
Was die Gemeinde Schlanders betrifft, kann ich bestätigen, dass der Einsatz der Freiwilligen und ehrenamtlich tätigen Menschen vorbildhaft ist und unser größtes Lob verdient. Viele helfen mit, um jene zu unterstützen, die derzeit Hilfe brauchen. Die Palette reicht vom freiwilligen Zustelldienst und dem Hoffnungs-Telefon bis hin zu fleißigen Schneiderinnen, die Schutzmasken nähen. Die Mitglieder der Gemeindeverwaltung stehen im engen Kontakt mit den Ehrenamtlichen, um die Initiativen zu unterstützen und bürokratische Hürden auszuräumen. Einige Freiwillige wollten sogar bei älteren Menschen die Wertstoffe abholen und zum Recyclinghof bringen. Das konnten wir aber leider nicht zulassen, weil es gesetzlich verboten ist. Eines steht fest: das Ehrenamt lebt und ist stärker denn je.