Im KASINO in der BASIS setzten sich rund 80 Personen mit dem Thema „Open Dialogue“ auseinander.
Kolja Heumann
Verena Perwanger
Verena Kammerer
Roselinde Gunsch
Roman Altststätter
Karin Tschurtschenthaler
Ariel Trettel umrahmte die Tagung mit passenden Liedern.

„Offener Dialog“

Auf der Suche nach neuen Methoden zur Bewältigung psychischer Krisen

Publiziert in 42 / 2021 - Erschienen am 16. Dezember 2021

Schlanders - „Vor allem in Zeiten wie diesen ist es notwendig, jenen Menschen zu helfen, die psychisch leiden. Die Bewältigung der psychischen Krisen ist infolge der Pandemie fast noch wichtiger geworden wie das Thema Wirtschaft.“ Mit diesen Worten eröffnete Roselinde Gunsch, die im Ausschuss der Bezirksgemeinschaft Vinschgau für die Sozialdienste und die Zusammenarbeit mit dem Sanitätsbetrieb zuständig ist, die Tagung zum Thema „Offener Dialog“, zu der sich rund 80 Personen, darunter vor allem Mitarbeitende im Sozial- und Gesundheitsbereich, in der BASIS in Schlanders eingefunden hattten. Die Tagung fand im Rahmen des Projektes „Horizont - psychische Gesundheit Terra Raetica“ statt. Projektträger ist die Bezirksgemeinschaft Vinschgau, Projektpartner die Caritas der Diözese Innsbruck. Das Ziel des Projektes, das vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und von Interreg V-A Italien-Österreich unterstützt wird, ist es, die Prävention auf verschiedenen Ebenen im Bereich der psychischen Gesundheit zu fördern. Maßgeblich mitorganisiert haben die Tagung die Direktorin der Sozialdienste, Karin Tschurtschenthaler, und Roman Altstätter (Treffpunkte für Menschen mit psychischer Erkrankung in Mals und in Schlanders sowie Wohngemeinschaft für Menschen mit psychischer Erkrankung „Felius“).

Was ist „Open Dialogue“?

Was man unter „Open Dialogue“ versteht, wie man dieses Modell bei psychischen Krisen konkret anwendet und was sich betroffene Menschen und Angehörige davon erwarten können, zeigte der Experte Kolja Heumann, Psychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Medizinischen Hochschule Brandenburg, auf. Der „Offene Dialog“ ist eine in Finnland entwickelte multiprofessionelle, sektorübergreifende psychiatrische Begleitung von Menschen in psychischen Krisen unter konsequentem Einbezug der Familie und des weiteren sozialen Netzwerks. Die Netzwerkgespräche bilden die Leitidee des psychiatrischen und therapeutischen Handels. Das Hauptziel des „Offenen Dialogs“ ist es laut Heumann, Hospitalisierungen zu verringern und Zwangsmaßnahmen möglichst zu vermeiden. Auch über die konkrete Organisation eines „Offenen Dialogs“ informierte der Experte: sofortige Hilfe in Krisen rund um die Uhr, Netzwerkgespräche von Beginn an und dann fortlaufend sowie Verantwortung eines Teams für den Rahmen. Die Netzwerkgespräche sollten nach Möglichkeit im häuslichen Umfeld stattfinden. Die Entscheidung, ob auch Familienangehörige, Freunde oder Nachbarn miteinbezogen werden, sollte der betroffenen Person überlassen werden. Die Kernidee ist es, „den Behandlungsprozess gemeinsam zu strukturieren.“ Nicht Veränderungen bei den Betroffenen seien zu fördern, sondern Dialoge.

„System hat Lücken“

Verena Perwanger, Primaria des Psychiatrischen Dienstes Meran, referierte zum Thema „Interventionsmodell bei psychischen Krisen in Südtirol.“ Als sie diesen Vortragstitel las, „habe ich mich gefragt: Gibt es überhaupt ein Interventionsmodell?“ In vielem, was Heumann vorgetragen habe, hätte sie sich wiedergefunden. Das „Basaglia-Gesetz“, das der Staat 1978 verabschiedet hat, sei mittlerweile in mehreren Punkten erneuerungsbedürftig. Das System weise Lücken auf. Perwanger informierte auch über die bestehenden Dienste und Angebote in Südtirol: Hausarzt, Zentrum für psychische Gesundheit, psychologischer Dienst, Dienst für Abhängigkeiten, Erste Hilfe im Krankenhaus und Beratungsstellen. Die Methode des „Offenen Dialogs“ begrüßte die Primaria zwar, warf aber bei der anschließenden Podiumsdiskussion die Frage in den Raum, „ob wir die dafür notwendigen Ressourcen haben.“ 

„Du bist nicht allein“

Über persönliche positive Erfahrungen mit der „Open Dialogue“-Methode berichtete Verena Kammerer, die in Berlin lebt und arbeitet. Kammerer, 1965 in Bozen geboren, absolvierte eine Ausbildung für wissenschaftliche Illustration und anatomisches Zeichnen in Mailand, besuchte die Meisterklasse für Grafik in Wien und studierte Psychologie an der FU Berlin. Verena Kammerer hat in ihrem Leben 6 Psychosen und 4 Psychiatrie-Aufenthalte durchgemacht. Einer der Aufenthalte war „dramatisch und hat mich traumatisiert. Ich fühlte mich ohnmächtig und völlig ausgeliefert.“ Später habe sie erfahren und erlebt, „dass es mit Hilfe von Netzwerkgesprächen möglich ist, schwere Krisen auch ohne Psychiatrie-Aufenthalt zu bewältigen: „In der Begleitung hatte ich das Gefühl, dass ich nicht allein bin, dass ich Hilfe einfordern darf und dass ich sie auch bekomme.“ Netzwerkgespräche, geführt mit Wertschätzung und auf Augenhöhe, könnten für die Klienten sehr hilfreich sein. Der Behauptung, wonach psychische Erkrankungen unheilbar seien, gelte es energisch entgegenzutreten. Ein besonderes Steckenpferd von Verena Kammerer ist das Recovery-Modell. Dieses Konzept hebt bei psychischen Störungen das Genesungspotential der Betroffenen hervor und unterstützt es. Kammerer leitet selbst Recovery-Gruppen. Auch dem Ex-In-Ausbildungsmodell schreibt sie eine große Bedeutung zu. Das Modell basiert auf der Überzeugung, dass Menschen, die psychische Krisen durchlebt haben, diese persönlichen Erfahrungen nutzen können, um andere Menschen in ähnlichen Situationen zu verstehen und zu unterstützen. Kammerer beendete ihr Referat mit einem Zitat von Albert Camus: „Mitten im Winter erfuhr ich endlich, dass in mir ein unvergänglicher, unbesiegbarer Sommer ist.“

Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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