Andrea Fleckinger

„Schweigekultur durchbrechen“

Geschlechtsspezifische Gewalt an Frauen. Wie wir gemeinsam etwas verändern können.

Publiziert in 5 / 2024 - Erschienen am 12. März 2024

Schlanders/Vinschgau - Geschlechtsspezifische Gewalt an Frauen und ihre möglichen Folgen wirken auch in die nächsten Generationen hinein. Das Verschweigen und Verdrängen von Gewalterfahrungen der Eltern- und Großelterngeneration hat die Auseinandersetzung mit der Realität von Gewalt in Südtirol lange erschwert und wurde bisher nicht aufgearbeitet. Die Universität Trient, medica mondiale, das Forum Prävention und das Frauenmuseum Meran haben im vergangenen Jahr gemeinschaftlich die feministisch-partizipative Aktionsforschung „Traces“ zu möglichen Langzeitfolgen von sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Südtirol, ausgehend vom Vinschgau, begonnen. „Traces“ bedeutet auf Deutsch „Spuren“ und ist gleichzeitig ein Akronym für TRAnsgenerational ConsEquenses of Sexual violence. Finanziell unterstützt werden die Projektpartnerinnen von der Autonomen Provinz Bozen, Abteilung Soziales und von der Stiftung Sparkasse. Die Bezirkszeitung der Vinschger hat mit der Leiterin der Studie, Andrea Fleckinger von der Universität Trient ein Gespräch über das Ziel der Studie und zum Stand der Forschung geführt:

der Vinschger: Frau Fleckinger, was ist das Ziel der feministisch-parteziptativen Aktionsforschung „Traces“, die vergangenes Jahr im Vinschgau begonnen wurde?

Andrea Fleckinger: Das Ziel unserer Forschungsarbeit ist es, gemeinsam mit betroffenen Frauen die Schweigekultur zu durchbrechen sowie die Aufarbeitung vergangener Gewalterfahrungen gesamtgesellschaftlich anzustoßen und präventiv das Entstehen von neuen Gewaltspiralen zu verhindern. Nicht aufgearbeitete Traumata können vererbt werden und hinterlassen Spuren. Diese Ziele können wir nur gemeinsam mit betroffenen Frauen erreichen, die bereit sind, über ihre Erfahrungen zu sprechen und mit uns einen Beitrag zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt für Südtirol leisten möchten.

Ihr Anliegen ist es also, mit Frauen aller Generationen aus dem Vinschgau in Kontakt zu treten, die selbst sexualisierte Gewalt erlebt haben und die bereit sind, in einem geschützten Rahmen mit geschulten Personen über ihre eigenen Erfahrungen von sexuellen Übergriffen zu sprechen? Haben sich bis jetzt schon Studienteilnehmerinnen gefunden, mit denen Sie und Ihre Kolleginnen Interviews führen konnten?

Mit 15 Frauen aus allen Generationen, die vorwiegend aus dem Vinschgau kommen, haben wir schon gesprochen. Es sind Frauen, die entweder selbst betroffen sind von sexualisierter Gewalt oder deren Mütter bzw. Großmütter, Töchter oder Enkeltöchter. Es geht uns darum zu verstehen, was mit den nachfolgenden Generationen passiert. Wir suchen noch nach weiteren Teilnehmerinnen. Gerne können sich Frauen, die an der Studie teilnehmen möchten bei mir unter andrea.fleckinger@unitn.it oder telefonisch unter 0464/808438 melden. Ich kann ihnen im persönlichen Gespräch mehr über die Studie erzählen. Alle Gespräche sind vertraulich und personenbezogene Daten werden anonymisiert.

Im November und Dezember gab es zwei Erinnerungsrunden zum Leben der Frauen im Vinschgau in den Seniorenwohnheimen von Laas und Mals. Welche Erfahrungen konnten Sie dabei mitnehmen?

Die Erfahrungen sind sehr wertvoll, da sie uns helfen, Lebenszusammenhänge besser zu verstehen. Früher konnten die meisten Frauen im Vinschgau keinen Beruf erlernen, wodurch sie ökonomisch abhängig waren. Sie lebten in Großfamilien oft in ärmlichen Verhältnissen. Die katholische Kirche beeinflusste auch stark die Rolle der Frau und Mutter. Es gab keine Aufklärung für die Jugend, über Sexualität herrschte Schweigen, über sexualisierte Gewalt erst recht. Für uns ist es sehr hilfreich, wenn sich ältere Frauen, über 80, bei uns melden, um uns ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Während des Krieges und in der Nachkriegszeit waren die Lebensumstände völlig anders. Für uns ist es zentral, das Wissen der Frauen in den gesellschaftlichen Kontext einzubetten.

Demnächst steht das nächste Treffen mit den Stakeholdern, den Interessensvertreter*innen im Vinschgau an. Welches sind die Themen bei diesem Treffen?

Zunächst möchten wir den Stakeholdern berichten, was im ersten Forschungsjahr alles passiert ist. Anschließend wollen wir uns darüber austauschen, wie wir das Forschungsprojekt weiter gestalten, wie die nächsten Schritte aussehen können und was vor Ort noch gebraucht wird, damit das Schweigen über die Gewalt aufgebrochen werden kann. Vielleicht gibt es bereits sichtbare Veränderungen in der Schweigekultur. Da die Studie partizipativ angelegt ist, werden wir gemeinsam die nächsten Schritte für das zweite Forschungsjahr erarbeiten.

Ingeborg Rainalter Rechenmacher
Ingeborg Rainalter Rechenmacher
Vinschger Sonderausgabe

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