„So sehe ich wenigstens ihre Gesichter“
In vielen Seniorenwohnheimen spielen sich seit Anfang März unzählige Einzeltragödien ab. Gratwanderung zwischen Sicherheit und Menschlichkeit.
Schlanders - Was es bedeutet, einander nicht mehr ins Gesicht schauen zu können, sich nicht mehr die Hand geben oder umarmen zu können, wissen ältere Menschen, die seit dem Frühjahr in Seniorenwohnheimen „eingesperrt“ sind, nur allzu gut. Und ihre Angehörigen wissen es auch, sofern sie ihre Lieben tatsächlich lieben und sie nicht nur „sicher aufgehoben und versorgt“ wissen wollen. Schon seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie gehören die Wohn- und Pflegeheime zu den sensibelsten Orten, an denen der Schutz vor dem Coronavirus besonders großgeschrieben wird. Das liegt vor allem daran, dass ältere Menschen zu den besonders gefährdeten Risikogruppen gehören. Seit nunmehr über 7 Monaten sind die Führungskräfte und Verantwortlichen der Heime, das Personal sowie auch die ärztlich und politisch Verantwortlichen besonderen Herausforderungen ausgesetzt. Es ist vielfach eine Gratwanderung zwischen dem, was die Aspekte der Sicherheit und des Schutzes erfordern, und dem, was die Menschlichkeit vorgibt. Kann oder darf man es zum Beispiel den engen Angehörigen von Heimbewohnern, die im Sterben liegen, verwehren, ihre Lieben unter der Einhaltung aller Sicherheitsvorgaben ein letztes Mal zu besuchen und ihnen die Hand zu halten? Zusätzlich zu solchen Grenzsituationen, mit denen man in den Heimen übrigens unterschiedlich umgeht, hat die Pandemie auch den sogenannten Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner gehörig und zum Teil drastisch auf den Kopf gestellt. „Es ist schon sehr schlimm, so eingesperrt leben zu müssen“, sagte die 82-jährige Theresia Grüner, mit der der Vinschger kürzlich im Freien vor dem Bürgerheim in Schlanders ein kurzes Gespräch führen durfte. Mit dabei - natürlich ebenfalls mit Mund- und Naseschutz und einem mehrmetrigen Abstand - war auch ihr Sohn Wolfgang, der in Laas wohnt. Er hatte seiner Mutter eine Tasche mit ein paar Süßigkeiten und persönlichen Sachen mitgebracht. Die Tasche kann er der Mutter nicht direkt in die Hand geben, sondern muss sie dem Freizeitgestalter Andreas Wiesler überreichen, der sie dann an Theresia weitereicht. Dass ihrem Sohn vor jedem Besuch das Fieber gemessen wird, ist mittlerweile ebenso selbstverständlich, wie das Ausfüllen des „Besuchsprotokolls“ und die Einhaltung weiterer Regeln und Vorgaben. Der Aufgabenbereich von Andreas Wiesler hat sich schon vor Monaten grundlegend geändert. War er früher voll damit beschäftigt, die Freizeit der älteren Menschen zu gestalten, so vereinbart er seit Anfang Mai die Besuchstermine und achtet darauf, dass bei den Besuchen alle Regeln eingehalten werden.
Zusätzliches Personal
Außerdem wurde im Bürgerheim zusätzliches Personal eingestellt, das sich in den einzelnen Stockwerken mit den Seniorinnen und Senioren beschäftigt, sie unterhält und Zeit mit ihnen verbringt. Worüber sich nicht nur Theresia Grüner und sein Sohn Wolfgang freuen, ist die Möglichkeit, „dass wir uns seit einiger Zeit auch hier im Freien begegnen können, auch wenn wir Masken tragen und Abstand halten müssen.“ Dieses zusätzliche Angebot weiß Theresia vor allem deshalb zu schätzen, „weil wir uns so direkt anschauen können und nicht mehr durch eine Scheibe getrennt sind.“ Ein eigener Besucherraum mit einer Trennscheibe aus Plexiglas und weiteren Sicherheitsmaßnahmen ist im Bürgerheim schon Anfang Mai eingerichtet worden. Mit diesem Besucherraum und der parallel dazu funktionierenden Begegnungsstätte im Freien ist es der Heimführung mit Direktor Christoph Tumler an der Spitze gelungen, angesichts der strengen Vorschriften auf Staats- und Landesebene doch ein gewisses Maß an Menschlichkeit in den Heimalltag zu bringen. Einen wirklichen Ersatz zum „normalen“ Leben können diese Maßnahmen freilich nicht darstellen. Theresia und Wolfgang sind zwar froh darüber, dass sie einander schon im Raum im Inneren des Hauses begegnen konnten, „aber dieser Ort kam mir immer so vor wie ein Hochsicherheitsgefängnis“, räumt Wolfgang ein. Einander im Freien treffen zu können, sei viel besser. Froh sind Theresia und ihr Sohn auch dafür, dass es dank der technischen Mithilfe von Andreas Wiesler gelungen ist, unmittelbar nach der Sperrung des Heims am 5. März über Skype in Kontakt zu treten. „Es hilft einem schon viel, wenn man in die Gesichter der Kinder, Enkel und Enkelkinder sehen kann“, sagt Theresia. Sie ist auch dankbar dafür, dass sie relativ gut hört und insgesamt noch recht rüstig ist. „Viel schwerwiegender ist die Lage älterer Mitbewohner, die an das Bett gefesselt sind und gar nicht erst für einen Besuch hierhergebracht werden können“, stimmt Wolfgang seiner Mutter bei. Während es ihm möglich ist, regelmäßige Besuche zu vereinbaren, ist das für seine Schwester Birgit, die in Brixen lebt, aus Arbeitsgründen und wegen der Entfernung schon schwieriger.
Besuche im Halbstundentakt
Derzeit ist es im Bürgerheim in der Regel so, dass von Montag bis Freitag für den Zeitraum von jeweils 9 bis 15 Uhr Besuche von Angehörigen im Halbstundentakt möglich sind. Allerdings müssen die Termine vorab vereinbart und bei den Besuchen selbst alle Regeln und Vorschriften eingehalten werden. Anstelle der jetzt offenen Begegnungsstätte soll während des Winters ein Begegnungs-Container im Freien aufgestellt werden. Oft „leer und kalt“ ist es laut Theresia an den Wochenenden, „wenn es unten auf der Straße still ist und man keine Menschen vorbeigehen sieht.“ Das Schlimmste, was sich Wolfgang überhaupt vorstellen kann, „wäre es, dass man es einem Angehörigen untersagen würde, seine Lieben am Sterbebett zu besuchen.“ Im Bürgerheim in Schlanders ist laut Andreas Wiesler seit dem Ausbruch von Covid-19 noch niemand allein gestorben, es waren immer Angehörige dabei. Und noch etwas hat Wolfgang während der Corona-Monate erfahren müssen: „Manche Menschen, denen ihre Angehörigen nicht wirklich am Herzen liegen, glauben, dass sie in den Heimen bestens ‚versorgt’ sind und dass ihnen nichts abgeht.“ Das sei aber ein Trugschluss, denn in vielen Heimen in Südtirol spielen sich seit Monaten täglich viele ‚kleine’ Tragödien ab, die für die Betroffenen zu den ‚größten’ ihres Lebens gehören.“ Mehrfach habe er in letzter Zeit aus dem Mund älterer Menschen gehört, dass die Kriegs- und Nachkriegszeit zwar sehr schlimm gewesen sei und dass manchmal auch das Essen gefehlt habe, „aber wir waren dennoch immer zusammen.“ Wolfgang Grüner spricht dem Direktor Christoph Tumler und dem gesamten Mitarbeiterteam im Bürgerheim seinen aufrichtigen Dank aus: „Alle haben in dieser schweren Zeit Großartiges geleistet und leisten es noch immer. Manche sind vielleicht sogar über sich hinausgewachsen, denn für viele ist wahrscheinlich auch das Privatleben gehörig durcheinander gerüttelt worden.“
