Vom Vinschgau in den Harz
Südtiroler Fachkräfte für das Kalkwerk Winterberg
Vinschgau/Harz - An einem besonderen Geschichtsprojekt arbeitet der 23-jährige Sascha Fiebernitz aus Münchehof am Harz in Niedersachsen. Er sieht in Münchehof täglich das große Kalkwerk, wo einst auch viele Vinschger und Südtiroler aus anderen Gegenden arbeiteten. Im folgenden Beitrag führt er in bisherige Rechercheergebnisse ein und bittet zugleich um Mithilfe aus dem Vinschgau bzw. ganz Südtirol: Es ist das Jahr 1938. Der Vierjahresplan zur Aufrüstung Deutschlands ist im vollen Gange. Südlich von Braunschweig in Niedersachsen entsteht im Raum Salzgitter ein neues, großes Stahlwerk der namhaften Reichswerke „Hermann Göring“ unter der Leitung Paul Pleigers. Für die Hochöfen der neuen Werke wird unter anderem Kalk benötigt, um Stahl produzieren zu können. Pleiger setzt dafür den Doktor-Ingenieur Alfred Laubenheimer, einen Experten in Mineralogie und Kenner der Keramischen Industrie, als Leiter der Abteilung Steine und Erden ein. Laubenheimer und sein Team kümmern sich nun unter anderem um die Beschaffung von ausreichend Kalk für das Stahlwerk. Man wird dabei schnell auf ein großes Kalksteinmassiv im Westharz bei Bad Grund aufmerksam - dem Winterberg.
Schrägaufzug und Brecheranlage
Der Kalkstein des Winterberges ist von besonders hoher Reinheit, qualitativ also bestens geeignet. Laubenheimer beauftragt den Diplomingenieur Hans Börner mit dem Aufbau eines Kalkwerkes. Dieser plant einen modernen Steinbruch am Winterberg mit Schrägaufzug und Brecheranlage sowie einer fast 3 km langen Drahtseilbahn hinunter in die Ofenanlage bei Münchehof, welche mit einem Gleisanschluss an die Strecke Herzberg/Braunschweig angebunden ist, womit eine direkte Verbindung nach Salzgitter-Drütte in das Stahlwerk besteht. Zeitungen berichten vom „modernsten Kalkwerk Deutschlands“.
„Geschultes Personal“ aus Laas
Börner brauchte für die Arbeit im Steinbruch, die nicht ungefährlich war, geschultes Personal. Durch seine Arbeit im Laaser Marmorwerk, wo er unter anderem für die Firma Bleichert tätig war, bei dem Bau der berühmten Marmorbahn 1929, kannte Börner einige Arbeiter dort und holte sie für das neue Kalkwerk nach Bad Grund. Ab dem 24. Februar 1938 begann der Bau des Werkes, gleichzeitig am Winterberg sowie in Münchehof. Für die Fachkräfte aus Südtirol ließ Börner eine neue Siedlung in Bad Grund am Fuße des Iberges, unweit vom Steinbruch, entstehen. Sie trug den Namen „Hermann-Göring-Siedlung“.
Eigene Siedlung für Südtiroler
Diese Siedlung wurde auch gebraucht, denn ab 1939 kamen nun viel mehr Südtiroler, teils mitsamt Familie, nach Bad Grund und Münchehof. Grund dafür war das Optionsabkommen zwischen Deutschland und Italien. Man propagierte dies mit den Worten „Heim ins Reich“ - für die Familien, die vor der Unberechenbarkeit Mussolinis die Wahl der Ausreise mehr oder weniger akzeptiert haben, war es aber mehr ein Fortgehen von der Heimat. Trotzdem fanden viele von ihnen ein neues Zuhause, vor allem auch eine sichere Arbeit - wenn der Krieg nicht wäre. Mit dem Fortschreiten des Krieges wurden auch immer mehr Südtiroler einberufen. Selbst die Bemühungen der Geschäftsführung, ihre wichtigen Fachkräfte zu halten, scheiterten. Als Ausgleich für die fehlenden Arbeiter setzte man immer stärker auf ausländische Arbeitskräfte, vermehrt auch auf sogenannte Ostarbeiter aus den besetzten Sowjetgebieten. Eine Entscheidung, die die meisten Betriebe damals trafen, um die Produktion aufrechtzuerhalten, dabei hatten sich die Arbeiter an strenge Regeln zu halten und wurden meist in eingezäunten Lagern untergebracht. Wie die Behandlung ausländischer Arbeitskräfte im Kalkwerk Winterberg war, ist noch durch Nachforschungen zu ergründen.
Viele wollten in die Heimat zurückkehren
Mit dem Ende des Krieges, dem leider auch viele Südtiroler zum Opfer fielen, kam für viele der Wunsch, wieder in die Heimat zurückzukehren. Es sind noch keine genauen Zahlen bekannt, aber es sieht bisher danach aus, als seien die meisten Südtiroler, die nach Bad Grund und Münchehof gekommen sind, wieder zurückgekehrt. Von denen, die geblieben sind, leben heute nur noch die Nachkommen, die schon hier geboren sind. Und auch von denen gibt es nicht so viele. Die Erinnerung an Südtirol verblasst mit jeder Generation weiter. Es gibt in der Öffentlichkeit keine Wahrnehmung mehr dieser Geschichte, wenn, dann nur in Bad Grund, wo der Verein der Südtiroler in Niedersachsen noch hin und wieder tätig ist - wer weiß aber, wie lange noch. Das Kalkwerk hingegen gibt es immer noch, ausgebaut und modernisiert. Der Winterberg wurde in all der Zeit stark abgetragen. Der Schrägaufzug existiert schon lange nicht mehr, da er auch gar keine Funktion mehr hätte. Die Abteilung Steine und Erden der Reichswerke „Hermann Göring“, die ab 1941 zur eigenständigen Tochtergesellschaft ausgerufen wurde und fortan als Steine und Erden GmbH tätig war, existiert noch heute - seit 1971 unter dem Namen Fels-Werke GmbH.
Aufruf zur Mithilfe
Das Ziel von Sascha Fiebernitz (im Bild) ist es, die Geschichte rund um das Kalkwerk in seinem Heimatdorf eingehend aufzuarbeiten und „aus dem Rechercheprojekt irgendwann eine Publikation zu machen.“ Damit möchte er unter anderem auch wieder das Bewusstsein in seiner Region stärken, „wie eng verbunden der Harz mit dem Vinschgau und den Südtirolern ist.“ Hierfür möchte er das Projekt noch gerne mit persönlichen Erfahrungen bereichern. Er ruft in diesem Sinn alle Nachkommen von Südtirolern, die damals nach Bad Grund und Münchehof gekommen sind, auf, ihn zu kontaktieren und ihm über dieses Familienmitglied zu berichten, soweit Erzählungen überliefert sind. „Dazu wäre es noch höchst interessant, wenn originale Schriftstücke oder gar Fotos aus der Zeit vorhanden sind“, so Fiebernitz. Kontaktieren kann man ihn über E-Mail (saschafiebernitz@gmail.com). Mit seiner Arbeit möchte er auch dazu beitragen, „dass das Schicksal der Südtiroler während der Optionszeit nicht vergessen wird und man sich auch in unserer Region daran erinnert. “Fiebernitz ist von Beruf Elektroniker für Energie- und Gebäudetechnik. Ein besonderes Interesse für Geschichte hegt er schon seit Jahren.