Wenn Essen alles andere als normal ist
Der vierte Abend der Veranstaltungsreihe „Gesunde Psyche, gesundes Land“ beschäftigte sich Ende Februar in der BASIS in Schlanders mit Essstörungen und den verschiedenen Herausforderungen in ihrer Behandlung.
Schlanders - Die Präventionskampagne „Gesunde Psyche, gesundes Land“ entstand auf Initiative der Bezirksgemeinschaft Salten-Schlern und wird von weiteren fünf Bezirksgemeinschaften, unter anderem der Bezirksgemeinschaft Vinschgau, mitgetragen. Kürzlich fand in Schlanders ein Info-Abend über Essstörungen statt. Am Podium diskutierten Margit Coenen, Psychiaterin für Menschen mit Essstörungen, Sigrid Götsch, Psychotherapeutin in Meran, Heidemarie Tschenett, Ernährungstherapeutin, Roger Pycha, Stellvertretender Leider des Südtiroler Netzwerkes für Essstörungen und Elke Kalser, Psychologin bei INFES, der Fachstelle für Essstörungen. Die Coronakrise hat die Zahl der Essstörungen in Südtirol und vor allem auch im Vinschgau dramatisch hochschnellen lassen und das Eintrittsalter in die Essstörung zusätzlich gesenkt. Magersucht (Anorexia Nervosa), Ess-Brech-Sucht (Bulimia Nervosa) oder das Heißhungeressen (Binge Eating) verursachen für die Betroffenen und deren Familie großes Leid. Sie sind die psychischen Erkrankungen mit der höchsten Todesrate. In Italien sind die Essstörungen die Todesursache Nummer eins unter den 12- bis 17-Jährigen; die Behandlung einer Essstörung dauert durchschnittlich sieben Jahre, manchmal bleibt sie auch chronisch. Diese ernüchternden Zahlen stimmten das anwesende Publikum nachdenklich, und es wurde nach den Ursachen dieser dramatischen psychischen Erkrankung gefragt.
Mögliche Ursachen für Essstörungen und Alarmsignale
Die Ursachen für eine Essstörung sind multifaktoriell. Die Fachkräfte am Podium nannten den fehlenden Selbstwert, den gesellschaftlichen Druck, verzerrte Schönheitsideale und den Einfluss der sozialen Medien sowie verschiedene Belastungssituationen als Beispiele. Es seien 90 Prozent Mädchen oder Frauen betroffen, zunehmend auch junge Männer mit der Vorstellung eines muskulösen Körpers. Es sei wichtig, den jungen Menschen mitzugeben „Du bist wertvoll, unabhängig wie du aussiehst!“ Wenn sich alles nur um essen oder nicht essen dreht, ist es Zeit, Hilfe zu suchen. Als weitere Alarmsignale nannte die Psychiaterin Margit Coenen exzessiven Sport, sichtbare Gewichtsabnahme, sozialen Rückzug, das intensive Beschäftigen mit dem eigenen Gewicht und der Figur sowie zunehmende Gemütsschwankungen. Diätempfehlungen aus dem Netz führen bei jungen Menschen in der Wachstumsphase sehr schnell zu Gewichtsverlust und zu Mangelernährung. Sollten Eltern, Lehrpersonen oder Freundinnen diese Auffälligkeiten verunsichern, kann als allererste Anlaufstelle die INFES, die Infostelle für Essstörungen für ein Aufklärungsgespräch kontaktiert werden.
Was wird schon getan, was muss noch geschehen?
Gemeinsam mit dem Publikum wurde darüber diskutiert, was schon an Prävention und Hilfe angeboten wird und was in Südtirol für Personen mit Essstörungen noch unbedingt getan werden müsse, damit für die Betroffenen ein einfacher Vorgang wie regelmäßiges Essen wieder möglich ist? Es gibt in allen Bezirken ambulante Anlaufstellen des Sanitätsbetriebes, es gibt die Villa EEA in Bozen und Bad Bachgart als Reha-Einrichtungen. Wünschenswert wären in allen Bezirken ein Day-Hospital mit fachpersoneller Essbegleitung, dem sog. Unterstützungstisch sowie eine einzige landesweit zuständige fachspezifische Abteilung zur Behandlung von akuten Essstörungen für Volljährige bzw. ab 16 Jahren. Zudem fehlen Betten in den Krankenhäusern für längere Aufenthalte, denn je höher das Entlassungsgewicht einer Patientin, umso höher die Genesungschancen. „Im Vinschgau könnte noch vieles ausgebaut werden“, bestätigte Margit Coenen. Dieter Pinggera, Präsident der Bezirksgemeinschaft Vinschgau, nahm diese Forderungen mit als Auftrag an die Politik und versprach, sich für eine wohnortnahe Betreuung der Erkrankten und ihrer Familie einzusetzen. Die wichtige Funktion der Hausärzte als erste Anlaufstelle und wichtige Partner wurde ebenfalls betont und gleichzeitig bedauert, dass sich weder Hausärzte noch Psychologen und Schulführungskräfte im Publikum befanden.
Ein Leidensweg für die ganze Familie
Die Erfahrungsberichte zweier Mütter, deren Töchter in jungen Jahren an einer Essstörung erkrankt sind, lösten im Publikum große Betroffenheit aus. In ihren Schilderungen zeigten die Mütter mutig und ehrlich den Leidensweg auf, den nicht nur ihre Töchter, sondern mit ihnen die gesamte Familie gehen musste. Die Familien fanden bei vielen Stellen Hilfe, in der Pädiatrie in Brixen, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Meran, im Reha-Zentrum Bad Bachgart und vor allem beim geschulten Fachpersonal. Margit Coenen, Sigrid Götsch und Heidemarie Tschenett von der Essstörungsambulanz Meran schilderten die medizinischen, psycho- und ernährungstherapeutischen Herausforderungen in der Behandlung von Essstörungen, die nur Hand in Hand einher gehen können. „Die erste Therapie einer Essstörung ist die Ernährung, das ist die wichtigste Medizin“, sagte die Ernährungstherapeutin Heidemarie Tschenett, „und unsere Hauptaufgabe ist es, die Betroffenen wieder zum Essen zu motivieren. Das ist sehr schwierig, denn die Krankheit manipuliert die Patienten“. Dennoch sei die Krankheit bei fachgerechter Behandlung mit einem multiprofessionellen Team heilbar.Essen hat eine wichtige soziale Funktion und einen großen Einfluss auf die Psyche. Essen soll ein Genuss sein, abwechslungsreich und ansprechend zubereitet. „Wir müssen uns Lebensmittel nicht verbieten!“ betonte Moderatorin Elke Kalser zum Abschluss, bevor alle Gäste zu einem köstlichen Buffet eingeladen wurden.