Wirbel um Studie
„Pestizid-Ausbreitung im Vinschgau vom Tal bis in Höhenlagen“.Die Reaktionen der Obstwirtschaft, des Bauernbundes und des Dachverbandes für Natur- und Umweltschutz.
Vinschgau - Gemäß einer kürzlich veröffentlichten Studie der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU) und der Universität für Bodenkultur in Wien (BOKU) sind im Vinschgau Pestizide „im ganzen Tal bis in Höhenlagen zu finden.“ Vor allem bei Wind sei eine hohe Abdrift in die Umgebung möglich. Laut dem Umweltwissenschaftler Carsten Brühl (RPTU) „kann man mit der modernen Analytik von heute bis zu einhundert Pestizide gleichzeitig und auch in geringen Konzentrationen messen.“ Tatsächlich würden Studien zeigen, „dass sich Pestizide deutlich über die landwirtschaftlich genutzte Fläche ausbreiten und etwa Insekten in Naturschutzgebieten belasten. Im Vinschgau sei bereits vor einigen Jahren ein Rückgang von Schmetterlingen auf den Bergwiesen beobachtet worden. Fachleute hätten einen Zusammenhang mit dem Einsatz von Pestiziden im Tal vermutet, aber diesbezügliche Studien habe es bisher kaum gegeben. Dies sei für Brühl und seinen Kollegen Johann Zaller (BOKU) der Anlass gewesen, im Vinschgau die Verteilung von Pestiziden in der Umwelt zu untersuchen. Zusammen mit seinem Team sowie Fachkollegen der BOKU und aus Südtirol untersuchte Brühl die Pestizid-Belastung auf Landschaftsebene, entlang des ganzen Tals bis in Höhenlagen.
Bis auf 2.300 Höhenmeter
Elf sogenannte Höhentransekte wurden entlang der gesamten Talachse untersucht, Strecken, die sich vom Talboden von 500 bis auf 2.300 Höhenmeter erstrecken. Entlang dieser Höhentransekte wurden alle 300 Meter an insgesamt 53 Standorten Pflanzenmaterial gesammelt und Bodenproben gezogen. Die anschließende Analyse zeigte: „Insgesamt nehmen die Pestizide in den Höhen und mit Abstand zu den Apfelplantagen zwar ab, aber selbst im oberen Vinschgau mit kaum Apfelanbau haben die Forscher noch mehrere Substanzen in Mischungen im Boden und in der Vegetation nachgewiesen.“ Die Verbreitung der Stoffe hänge mit den teilweise starken Talwinden und der Thermik im Vinschgau zusammen. Nur an einer einzigen Stelle seien in den Pflanzen keine Wirkstoffe gefunden worden. 27 verschiedene Pestizide hätten die Forscher bei den im Mai durchgeführten Messungen gefunden. Bisher wenig wisse man, wie belastend sich Pestizide mit Mischungen in niedrigen Konzentrationen auf die Umwelt auswirken. Ebenso wisse man wenig über ein mögliches Zusammenwirken verschiedener Substanzen. Bei der Umweltrisikobewertung im Rahmen des europäischen Zulassungsverfahrens würden Mischungen nicht bewertet. Die gefundenen Konzentrationen seien zwar nicht hoch gewesen, „aber es ist erwiesen, dass Pestizide das Bodenleben schon bei sehr geringen Konzentrationen beeinträchtigen“, so Zaller. Laut dem Mit-Autor der Studie und Pestizid-Kritiker Koen Hertoge aus Mals „zeigen die aktuellen Ergebnisse eine neue Dimension des Problems, weil auch weit entlegene Gebiete mit Pestiziden belastet sind. Maßnahmen zum Schutz der Natur und der Gesundheit der Bevölkerung sind unbedingt notwendig und hier ist nun die neue Landesregierung gefordert.“ Mögliche Maßnahmen wären eine Reduktion oder gar ein Verbot des Pestizideinsatzes. Außerdem sollte ein systematisches Monitoring eingeführt werden. Die Verantwortung für die Verringerung des Pestizideinsatzes liegt nach Ansicht der Forscher nicht nur bei den Apfelbauern, sondern auch bei den großen Supermarktketten. Diese könnten eine Akzeptanz von nicht ganz so perfekt aussehenden Äpfeln fördern.
„Auch ein Stück Würfelzucker im Bodensee ist nachweisbar“
„Bei den heutigen Mess- und Labortechniken ist es möglich, auch noch so kleine Teilchen von Substanzen zu finden, sogar ein einziges Stück Würfelzucker im Bodensee lässt sich nachweisen“, sagte der im Herbst 2023 wiedergewählte VIP-Obmann Thomas Oberhofer auf Anfrage. Solange es Menschen auf der Welt gibt, werden sie Spuren und Rückstände hinterlassen, nicht nur Landwirte, sondern auch Autofahrer, Raucher und andere. Finden lasse sich mit den modernen Methoden so ziemlich alles, „die Frage ist aber, woher es kommt und ob es schädlich ist.“ Was die Äpfel aus dem Vinschgau betrifft, „so haben wir eine bombensichere Ware.“ Zum einen würden nur Pflanzenschutzmittel verwendet, die das strenge Zulassungsverfahren positiv bestanden haben, und zum anderem gebe es die Grenzwerte, „die wir sogar um rund das Doppelte unterbieten.“
„Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht“
Was den VIP-Obmann stört, ist die Tatsache, dass „bestimmte Aktivisten“ immer wieder den Vinschgau bzw. Südtirol als „Zielgebiet“ für Studien, Bücher usw. aussuchen. Dabei gäbe es zum Beispiel in Deutschland allerhand zu untersuchen: „Wir unsererseits haben unsere Hausaufgaben gemacht und werden sie weiterhin machen.“ Oberhofer bezog sich dabei u.a. auf die Umstellung der Sprühgeräte auf Injektordüsen. Rund 20 Prozent der Vinschger Äpfel würden mittlerweile biologisch angebaut. Noch mehr Bio sei aufgrund der geringen Nachfrage nicht möglich. Überzeugt ist der VIP-Obmann auch davon, dass es mittlerweile „ein gutes Nebeneinander zwischen integriertem und biologischen Anbau sowie auch zwischen der Grünlandwirtschaft gibt.“ Auf die jahrelangen Bemühungen der Apfelwirtschaft, möglichst umweltfreundlich und ökologisch zu produzieren, verweist auch der Biobauer Joachim Weiss aus Latsch, der neue Obmann des Bezirks Vinschgau im Südtiroler Bauerbund. Auch er ortet in der Studie eigentlich nichts Neues: „Neu ist nur, dass man heutzutage Millionstel von Einheiten finden kann. Wenn man mit den neuesten Methoden sucht, wird man immer und überall etwas finden.“ Sollten aber Wirkstoffe gefunden worden sein, die nicht zugelassen sind, „wird die Obstwirtschaft der Sache nachgehen.“ Nicht unerwähnt ließ Weiss den Druck der Lebensmittelketten: „Solange nur makellose Äpfel erwünscht sind, wird es schwierig werden, noch mehr Bio-Äpfel zu produzieren.“ Die Nachfrage lasse zu wünschen übrig, die Auszahlungspreise für Bio-Äpfel seien in den vergangenen Jahren gesunken. Ohne Pflanzenschutz werde es auch in Zukunft nicht möglich sein, Äpfel zu produzieren.
„Ungute“ Schlagzeilen
Als nicht gerade förderlich für die Landwirtschaft und auch den Tourismus im Vinschgau und in ganz Südtirol werten Oberhofer und Weiss bestimmte Presseberichte, wie sie im Zusammenhang mit der Studie zum Beispiel in Deutschland erschienen sind. Im „Münchner Merkur“ lautete die Schlagzeile: „Das vergiftete Wanderparadies“, die „Stuttgarter Zeitung“ titelte: „Belastung mit Giften im Vinschgau hoch“. Auch Schlagzeilen wie „Der Vinschgau liegt unter einer Pestiziddecke“ usw. waren zu lesen.
Für landesweites Pestizidmonitoring
Laut dem Dachverband für Natur- und Umweltschutz belege die Studie eindeutig, „dass der Vinschgau jährlich von März bis September in eine durchgehende Pestizidwolke gehüllt ist“, und zwar überall bis hinauf auf die Almen. „Pestizide haben auf Nicht-Zielflächen nichts zu suchen,“ sagt der Geschäftsführer des Dachverbandes, Hanspeter Staffler. Auch kleinste Pestiziddosen könnten Wildbienen, Schmetterlinge und andere Insekten abtöten. Was für den Vinschgau jetzt wissenschaftlich nachgewiesen sei, gelte laut dem Dachverband wohl auch für das gesamte Etsch- und Eisacktal bis in den Brixner Raum. „Wir müssen mit Entsetzen feststellen, dass ein Großteil der Südtiroler Bevölkerung in der Vegetationsperiode tagtäglich und unfreiwillig mit chemisch-synthetischen Pestiziden in Kontakt ist,“ sagt Präsident des Dachverbandes, Josef Oberhofer. Der Verband fordert die Landesregierung zum wiederholten Mal auf, „den Einsatz von chemisch-synthetischen Pestiziden in Südtirol bis ins Jahr 2030 zu halbieren und bis ins Jahr 2040 auf zehn Prozent von heute zu reduzieren.“ Auch der Aufbau eines landesweiten systematischen Pestizidmonitorings wird vorgeschlagen. Staffler: „Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo wir der Pestizidwirtschaft für die Gesundheit der Menschen und der Umwelt die Stirn bieten müssen.“