„Wissen um das Virus erweitern“
Peter Pramstaller: „Die Verantwortung des Einzelnen wird immer wichtiger“
der Vinschger: Herr Peter Pramstaller, Sie sind der Leiter des Instituts für Biomedizin und der Verantwortliche der Studie. Gibt es Erkenntnisse aus der CHRIS Covid-19-Studie, die für das Gesundheitswesen und das Management der Pandemie nützlich sein können?
Peter Pramstaller: Aus den Fragebögen ging hervor, dass der Verlauf der Symptome, also wie sie sich bei der Bevölkerung entwickelten, genau mit dem Entwicklungsverlauf der Pandemie übereinstimmte. So haben wir gleich zu Beginn der beiden kritischsten Wellen im Vinschgau – im November 2020 und Februar 2021 – einen Spitzenwert bei den in den Fragebögen angegebenen Symptomen verzeichnet. Es handelt sich um eine Beobachtung, die zwar naheliegend erscheinen mag, die aber für die Überwachung der Pandemie von Bedeutung ist: Ein digitales System, das regelmäßig Anzeichen von Symptomen bei einer Stichprobe von Menschen – natürlich in anonymisierter Form – erfassen kann, könnte ein sehr effizientes Überwachungsinstrument sein, um Momente oder geografische Gebiete zu ermitteln, in denen die Infektionssituation besonders sorgfältig überwacht werden muss. Der gleiche Trend wurde von unseren Kolleginnen und Kollegen an der Universität Lübeck bestätigt, die eine ähnliche Studie wie wir durchführen.
Die Daten der CHRIS Covid-19-Studie sind Teil des weltweit größten Forschungsvorhabens zu Genetik und Covid-19. Gibt es Neuigkeiten zu diesem Großprojekt?
Bemerkenswert ist, dass der erste wissenschaftliche Artikel der Großstudie – unter anderem mit den CHRIS Covid-19-Daten – innerhalb eines Jahres 205.000 Mal heruntergeladen und mehr als 160 Mal in anderen wissenschaftlichen Artikeln zitiert wurde. Das ist innerhalb dieser kurzen Zeit eine enorme Zahl. Die Studie selbst ist noch größer geworden: Es werden jetzt die Daten von 220.000 Corona-Infizierten und von 50 Millionen Nicht-Infizierten weltweit auf Zusammenhänge zwischen Covid-19 und genetische Faktoren hin analysiert. Während die erste Publikation 13 Gene aufzeigte, die mit einem schweren Krankheitsverlauf zusammenhängen, wurden jetzt zwei weitere Bereiche ausfindig gemacht, in denen die genetische Veranlagung eine wichtige Rolle spielt: zum einen, wie anfällig jemand ist, sich überhaupt zu infizieren und zum anderen, wie schnell sich die Lunge bei Schäden durch die Erkrankung „reparieren“ kann. Insbesondere wurde festgestellt, dass eine Mutation im MUC5B-Gen das Risiko für einen Krankenhausaufenthalt verringert und eine Mutation im SFTPD-Gen das Risiko erhöht – es ist bereits bekannt, dass diese Mutation für Lungenerkrankungen verantwortlich sein kann. Insgesamt wurden bis heute 51 Gene identifiziert, die Covid-19 beeinflussen. All diese Erkenntnisse helfen, Mechanismen der Krankheit besser zu verstehen und bessere Medikamente zu entwickeln.
Lässt sich auf der Grundlage der gesammelten Daten voraussagen, womit wir in den kommenden Monaten rechnen müssen?
Unsere Studie ist nicht so angelegt, dass sie Zukunftsszenarien über die Ausbreitung des Virus entwirft; sie dient vielmehr dazu, unser Wissen über das Virus zu erweitern und die biologischen, genetischen und umweltbedingten Faktoren zu untersuchen, die seine Entwicklung beeinflussen. Das Bild, das sich heute aus der Fachliteratur und der Arbeit vieler Kolleginnen und Kollegen ergibt, ist, dass die Varianten heutzutage infektiöser sind und schneller auftauchen: Während des Höhepunkts einer Variante ist die nächste Variante höchstwahrscheinlich schon im Umlauf, und da die Menschen wieder mobil sind, taucht sie in verschiedenen geografischen Gebieten gleichzeitig auf. Solange die Wissenschaft keinen Impfstoff findet, der an der Wurzel des Virus ansetzt, werden Auffrischungsimpfungen das wichtigste Mittel bleiben, um die Zahl der Krankenhausaufenthalte und Todesfälle bei Risikogruppen möglichst klein zu halten. Und die Verantwortung des Einzelnen wird immer wichtiger: Vorsicht, Masken und Isolierung beim Auftreten von Symptomen, um insbesondere die schwächeren Bevölkerungsgruppen zu schützen.