Wohn- und Spielstraße
Eine Chance oder Zwangsbeglückung?
Schlanders - Im Zuge des Gemeindeentwicklungsprogramms soll der Bürgerbeteiligung mehr Gewicht gegeben werden. Deshalb lud die Gemeindeverwaltung von Schlanders kürzlich zu einer Bürgerversammlung, besser gesagt einer Anrainerversammlung ein, um in einen gemeinsamen Dialog über die Zukunft der Grüblstraße zu treten. Diese verläuft vom Hotel Linde im Westen bis zur Landwirtschaftlichen Hauptgenossenschaft im Osten von Schlanders und ist mit einigen wenigen Ausnahmen eine reine Wohnstraße mit Kondominien und Privathäusern. Dennoch wirkt die Grüblstraße unattraktiv und wenig einladend. Einen radikalen Ansatz wagte nun die Gemeindeverwaltung, in dem sie den freischaffenden Architekten Martin Thoma damit beauftragt hat, ein Konzept für eine „Wohn- und Spielstraße“ zu erstellen. „Das Projekt ist einzigartig in Schlanders und im ganzen Vinschgau, es ist ein Experiment, das in der Gemeindeverwaltung auf große Akzeptanz gestoßen ist, denn es ist eine Aufwertung der Straße, dieses öffentlichen Raumes. Aber man muss die Anrainer mitnehmen“, betonte Bürgermeister Pinggera bei der gut besuchten Versammlung im Kulturhaus, „denn plötzlich sollen in der Grüblstraße der Fußgänger und Radfahrer, die Kinder und Bewohner im Mittelpunkt stehen und dem Autoverkehr gleichgestellt werden“.
Wie das genau aussehen sollte, erklärte Architekt Thoma anhand von Renderings (siehe Bilder) und Plänen: eine Baumreihe zieht sich wie ein roter Faden mitten durch die Straße. Sie schafft eine imaginäre Grenze zwischen Fahrbahn und bespielbarem Raum. Gehsteige werden eliminiert, alles auf ein Niveau gebracht, so dass Fußgänger, Kinder, Radfahrer und der motorisierte Verkehr auf gleicher Ebene zirkulieren. Der Straßenbelag soll ein rot eingefärbter Asphalt sein, um zu signalisieren, dass in dieser Straße andere Verkehrsbedingungen herrschen. Die Fahrbahn würde laut Plan auf viereinhalb Meter reduziert, die Räume zwischen den Bäumen können bei Bedarf zum Ausweichen genutzt werden. Zwischen bevorzugter Fahrbahn und bespielbarem Raum gibt es fließende Übergänge. Der typische Straßencharakter soll dem eines öffentlichen Begegnungsraumes weichen, deshalb wird auch, wenn möglich, auf Bodenmarkierungen und Verkehrsschilder verzichtet. Durch die Ost-West-Ausrichtung der Straße ist die Südseite beschattet und die Nordseite gut belichtet und besonnt. Um die hochstämmigen Bäume sollen halbkreisförmige Sitzbänke errichtet werden, die zum Sitzen und Verweilen einladen, zwei Brunnen spenden Trinkwasser. Zusammen mit den Bäumen bilden die geplanten Objekte ein strategisches System, welches Autoverkehr und Radfahrer in die richtige Bahn lenkt und den fußläufigen Teilnehmern Schutz bietet. Bewusst wurde auf weitere Attraktionen verzichtet. Der neu entstandene, bespielbare Raum soll jedoch zukünftig vielfältige Nutzungsmöglichkeiten offenlassen. Diese sollten sich aber nach Bedarf aus Eigeninitiative der Anrainer entwickeln und bewusst nicht von der Planung diktiert werden.
In der Diskussion gab es kontroverse Meinungen. Auffallend viele junge Väter begrüßten die Verbesserung der Lebensqualität und die Verkehrsberuhigung in ihrer Straße. Andere Anrainer begrüßten die Idee und zeigten sich dankbar, dass ihre Straße dafür ausgewählt wurde. „Es entspricht dem Zeitgeist, Wohnstraßen lebenswert und freundlich zu gestalten“, brachte es etwa Monika Holzner, ehem. Vizebürgermeisterin, auf den Punkt. Dass es ein Umdenken und ein respektvolles Miteinander von Fußgängern und Fahrzeugen braucht, waren sich die meisten einig. Vereinzelte Anrainer äußerten jedoch große Bedenken, was die Sicherheit von Fußgängern und älteren Menschen angeht, wenn plötzlich kein Gehsteig mehr da sei. Die Fragen nach der Schneeräumung, einer Müllsammelstelle, dem Platz für größere Fahrzeuge wie Müllwagen, Feuerwehr, Paketzusteller wurden aufgeworfen und Bedenken wegen Randalismus in den Nachtstunden usw. geäußert. Ein Anrainer wunderte sich, warum kein Ideenwettbewerb ausgeschrieben worden war bzw. ob nicht zuerst eine Verkehrszählung sinnvoll wäre. Bürgermeister Pinggera begrüßte die zum Teil konstruktiven Anregungen, die auch in die weitere Planung mit einfließen könnten. Demnächst sollen Betonboller aufgestellt werden, um in der Praxis die „Wohn- und Spielstraße“ zu simulieren.
Kommentar
Als neutrale Zuhörerin hatte ich den Eindruck, dass sich einige wenige Anrainer mit einer „Wohn- und Spielstraße“ zwangsbeglückt fühlen und scheinbar mit der momentanen Situation zufrieden sind. Das Konfliktpotential jedenfalls darf nicht unterschätzt werden, damit sich nicht Fronten bilden, sondern dass sich alle Bewohner mit ihrer „neuen“ Straße identifizieren und sich an der Bessergestaltung erfreuen. Vielleicht übernehmen sie sogar die Patenschaft für Blumenkisten für Insekten und Bienen. Wir von der Bezirkszeitung
der Vinschger freuen uns jedenfalls auf eine lebenswerte, freundliche Grüblstraße.
Ingeborg Rechenmacher
