Hamlet im Müll

Publiziert in 1 / 2022 - Erschienen am 19. Januar 2022

Alles raus. Alte Möbel, vergilbte Hosen, löchrige Sandalen, stinkende Socken und Geräte, die schon lange nicht mehr funktionieren. Der Jahreswechsel bietet eine gute Gelegenheit, sich von alten Dingen zu befreien. In Neapel gehörte es früher zur Tradition, am Silvestertag um Mitternacht alte Sachen aus dem Fenster zu werfen. In den Kopf kam mir dieser Brauch, als ich mich kürzlich über meine verstaubten Bücherregale hermachte: ab mit den alten Schmökern. So kam es, dass ich mit Homer, Shakespeare, Goethe, Brecht, Freud, Hemingway, Kafka, Joyce, Tolstoi, Dostojewski und vielen anderen zum Wertstoffhof fuhr. Schon bei der Hinfahrt überkam mich ein ungutes Gefühl. Natürlich ist alles nur Papier. Als ich aber sah, wie „Krieg und Frieden“, „Hamlet“, „Der Prozeß“, „Tod am Nachmittag“, „Die Brüder Karamasow“ und „Ulysses“ in den Papierabfällen versanken, wurde mir klar, dass ich „sündige“. Ich fischte die Bücher wieder heraus und brachte sie zurück nach Hause. Seither sind sie nicht mehr „alte Sachen“, sondern so etwas wie Begleiter. Sie sind immer da und lassen sich jederzeit aufschlagen. Bei vielen anderen Dingen, von denen ich Abschied nahm, hatte ich kein ungutes Gefühl. Im Gegenteil. Es tut gut, Überflüssiges aus der Welt zu schaffen. Auch Entrümpelungsaktionen im Kopf wären ab und zu angebracht. Leider nicht aus dem Fenster werfen konnten wir bisher das Corona-Virus. Aber auch dafür wird die Zeit kommen.

Josef Laner
Josef Laner

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