Lieber Mitbewohner

Publiziert in 22 / 2023 - Erschienen am 5. Dezember 2023

Sie legte sich vor dem Bagger auf den Boden und schrie: „Nur über meine Leiche“. Ihr Mann stand neben ihr. Auch er schrie. Was war geschehen? Nach vollzogener Enteignung sollte eine Straße durch ihr Privatgrundstück gebaut werden. Und sie wurde gebaut. Im öffentlichen Interesse. Dafür hatten der Mann und die Frau kein Einsehen. Für sie blieb die Zwangsenteignung das ganze Leben lang eine große Ungerechtigkeit. Aber es gibt auch viele kleinere Sachen, die in den Köpfen von Menschen zur großen Problemen, manchmal sogar zu „Lebensinhalten“ werden können. Auch hier kommt mir die Erinnerung zu Hilfe: Es trug sich einst zu, dass über Nacht fremdes Vieh in die Wiese eines Bauern gelangte und dort weidete. Der Bauer hielt daraufhin Nachtwache und musste beobachten, dass der Nachbar den Tieren den Zaun öffnete. Eine Tragödie war das zwar nicht, aber der Bauer hat den Vorfall nie mehr vergessen. Und gegrüßt haben sie einander auch nicht mehr. Solche und ähnliche Dinge werden oft auch über Generationen weitergetragen. Es legen sich Wolken über Beziehungen und Nachbarschaften, die eigentlich leicht aufzulösen wären. Wer aber macht den ersten Schritt? Wenn in einem Kondominium ein Fahrrad auf dem falschen Platz abgestellt wird, kann das rasch zu schiefen Blicken führen und zu gegenseitigem Schmollen. Dabei ließe sich die „Tragödie“ mit ein paar Worten ausräumen: Könntest du dein Rad bitte anderswo abstellen, lieber Mitbewohner?

Josef Laner
Josef Laner
Vinschger Sonderausgabe

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